Geschrieben von Dienstag, 15 November 2011 19:52

Lulu – Verkannte Kunst oder vertonte Scheiße?

lulu"Wer zur Hölle ist LOU REED?!" Das war der erste Gedanke, der mir nach Bekanntgabe der Kollaboration mit METALLICA in den Sinn kam. Nein, ich kenne keinen einzigen Song von VELVET UNDERGORUND und habe auch noch nie etwas von Reed solo gehört, nur den Namen des Musikers kannte ich. Nach dem Hören des anderthalbstündigen Projekts "Lulu" bin ich schlauer: Reed ist ein nörgeliger Opa, der zu Kracheskapaden der vier 'tallica-Boys eigens geschriebene Texte über Frank Wedekinds Dramen "Erdgeist" (1895) und "Die Büchse der Pandora" (1904) rezitiert und bei seinem bärbeißigen, schiefen Sprechgesang hemmungslos auf Rhythmus und Tonlage der Musik pfeift.


So dachte ich zumindest beim ersten Hören von "The View". Naja, ehrlich gesagt dachte ich eher: Was soll das denn bitte für eine Kacke sein? METALLICA als hochbezahlte Backing-Band eines egozentrischen Künstlers, der doch eigentlich nur Musik für eine Theateraufführung schreiben wollte? Irgendwie ließ mich das Material aber nicht los. So hässlich, unpassend und schrecklich die "Songs" im Stream das erste Mal auch klangen, der Reiz, der Wille, sich intensiv mit dieser Art von Musik auseinander zu setzen, wurde immer größer. Und hat schließlich gesiegt. Nachdem ich "Lulu" mehrere Male in voller Länge gehört und mir die Texte durchgelesen habe, beginne ich die Besonderheit dieser Kollaboration zu begreifen. Nicht umsonst wird der Künstler, der dieses Projekt erst ins Rollen gebracht hat, auf dem Cover zuerst genannt: LOU REED & METALLICA heißt es da. "Lulu" ist Reeds Baby, mit seinen Texten und teilweise auch seiner Musik. Und METALLICA machen etwas eigentlich Undenkbares: Sie improvisieren. Lassen sich von den hässlichen Texten leiten, drücken ihre Gedanken in teils ungewöhnlich melodischen, teils enervierend krachigen Passagen aus und nehmen das Album zusammen mit Reed innerhalb von nur drei Monaten auf. Sie toben sich aus. Denn sie musizieren spontan – zumindest für eine Band wie METALLICA, die normalerweise perfektionistisch an jedem Arrangement, jeder Note feilt, bis sie für gut genug für die Musiker und damit auch die restliche Welt befunden wird. "Lulu" ist das völlige Gegenteil des sonst intensiven, langandauernden Songwriting-Prozesses. Und die vier Jungs sind mit Leidenschaft dabei, das zeigte auch das 1LIVE-Radiokonzert, das ihr euch hier ansehen könnt.

Hetfields Backing Vocals, wenn er beispielsweise im ungeheuer eingängigen "Brandenburg Gate" ständig "Smalltown Girl" brüllt oder mit Inbrunst "I am the root, I am the tablet / These ten stories" von sich gibt, klingen leidenschaftlich – genau wie die "Vocals" von Reed selbst, an die man sich natürlich erst einmal gewöhnen muss und das vielleicht gar nicht 90 Minuten lang kann. Tatsächlich klingt die Musik in "Little Dog", "Frustration" und zum Teil "Pumping Blood" völlig konzeptlos, ohne Linie. Da wird hier auf den Drums rumgeklöppelt, dort ein Gitarreneffekt eingebaut, und ständig brabbelt Reed, wenn es ihm denn passt. Das ist nicht "gut", eingängig oder nachvollziehbar, nein. Doch es gehört zum Konzept dieses Albums, das zu einem Großteil aus Eingängigkeit und Gefühl besteht. Gerade die Hetfield-Parts in "The View" sind doch hörenswert! Oder das bewusst extrem simple Gitarrenspiel im schnellen "Mistress Dread". Oder "Iced Honey", zusammen mit dem Opener der kürzeste Track auf "Lulu". Oder "Dragon". Oder schließlich der knapp 20-minütige, einlullende, melodiöse Abschluss "Junior Dad", der zumindest bis zum ewig langen, mit Streichern ausklingenden Part sehr gefühlvoll und einfach großartig klingt.

Die Riffs tönen oft unverkennbar nach METALLICA, würden auf einem Studioalbum der Thrasher jedoch noch gewaltig bearbeitet und zurecht gerückt. Hammett hat bis auf einige Effekte und Spielereien so gut wie keine Soloauftritte, Trujillos Bass ist nur selten wahrzunehmen. Dafür hat Ulrichs Bassdrum den geilsten Punch seit "Garage Inc.", und überhaupt klingt "Lulu" ziemlich fett. Eins ist klar: Ohne den Willen, sich wirklich auf die gewöhnungsbedürftige Mischung aus improvisierender Metalband, die zu den Texten eines bärbeißigen Opas spielt, einzulassen und ohne zumindest einmaliges intensives Studieren der Texte wird "Lulu" keinen Spaß machen. Und auch für meine Verhältnisse reizen einige Parts die Grenze zum Unhörbaren etwas zu oft aus. Doch viel spannender finde ich, wie sich das anfängliche "Was für ein Mist"-Gefühl in einen "Wow, das ist etwas Besonderes und dazu noch gut"-Gedanken wandeln kann.

Liebe METALLICA-Fans: Ihr dürft "Lulu" von ganzem Herzen hassen und es für das schlechteste jemals veröffentlichte Stück Musik und die größte Verschwendung von Rohstoffen überhaupt halten. Ihr könnt Hetfields und Hammetts Riffs auf Kindergartenniveau herab lästern, Ulrichs Schlagzeugspiel das absolute Fehlen von Timing und Feeling attestieren, Trujillo auslachen, weil er eh nicht zu hören ist, und Reed als nöligen alten Opa mit null Sinn für vernünftigen Gesang abstempeln. Macht es, haltet euch nicht zurück. Aber bitte, BITTE löst euch von der Erwartungshaltung, es hier mit einem "echten" METALLICA-Album zu tun zu haben oder "Lulu" als musikalische Richtung kommender Songs anzusehen. Denn mit dieser Einstellung werdet ihr kläglich scheitern.