Geschrieben von Mittwoch, 07 Juli 2021 10:15

At The Gates im Interview zu "The Nightmare Of Being" über Pessimismus, Philosophie und Progression

At The Gates At The Gates Foto by Ester Segarra

Mit ihrem siebten Studioalbum "The Nightmare Of Being" schlagen die schwedischen Melodeath-Ikonen AT THE GATES progressiv-experimentelle Töne an und beschäftigen sich inhaltlich mit pessimistischer Weltanschauung. Der düsteren Thematik zum Trotz präsentiert sich Sänger Tomas "Tompa" Lindberg Redant am Telefon hoffnungsvoll – und voller Vorfreude auf die Veröffentlichung der neuen Platte.

Tompa, wie geht‘s dir und was überwiegt: Die Freude, dass ein neues AT THE GATES-Album erscheint oder die Enttäuschung darüber, die neue Musik aktuell wegen der Corona-Pandemie noch nicht live mit den Fans feiern zu können?

Für uns steht auf jeden Fall die Vorfreude im Vordergrund: Die Leute können die neue Platte endlich hören, auf die wir echt stolz sind. Wir sind eine "Album-Band" und tun uns immer schwer damit, einzelne Single- und Video-Tracks auszuwählen. Deshalb freuen wir uns, dass man das Album nun im Ganzen hören kann. Wir können die Reaktionen der Fans kaum abwarten – denn "The Nightmare of Being" ist eine durchaus herausfordernde Scheibe, die ein paar Durchläufe braucht.

An die fehlenden Liveshows sind wir ja mittlerweile gewöhnt – und freuen uns natürlich umso mehr darauf, wenn wir endlich wieder auf der Bühne stehen. Aber für uns ist es ein Erfolg, die Platte trotzdem jetzt zu veröffentlichen.

Deine positive Einstellung ist bewundernswert. Denn ich persönlich bin schon ein bisschen überrascht, dass derzeit die Fußball-Europameisterschaft mit teils zehntausenden Zuschauern in den Stadien stattfindet, während selbst kleine Konzerte weiterhin kaum bis gar nicht möglich sind.

Ja, das ist tatsächlich ein bisschen merkwürdig. Zu diesem Thema gab es auch hierzulande schon lange Diskussionen. Es ist erstaunlich, dass kommerzielle Einrichtungen wie große Shopping-Zentren fast die ganze Zeit geöffnet sind und von tausenden Menschen besucht werden. Aber es dürfen keine 50 Leute zu einem Konzert gehen? Da stehen wohl monetäre Interessen im Vordergrund.

Inwieweit war denn die Produktion des neuen Albums schwieriger oder anders als Aufnahmen in Zeiten vor COVID-19?

Eigentlich gar nicht so sehr. Viele Leute vermuten einen Zusammenhang mit der Pandemie, dass wir die Platte in vier verschiedenen Studios aufgenommen haben. Aber dieser Aufnahme- und Songwriting-Prozess hatte andere Gründe. Wir wollten bewusst unterschiedliche Locations für die verschiedenen Instrumente nutzen.

In gewisser Weise war die Arbeit sogar einfacher, weil wir keine Ablenkungen hatten, keine Konzerte gegeben haben und unsere sozialen Kontakte stark reduziert waren. Wir konnten uns in eine kreative Blase zurückziehen und ich habe das als eine Art Flucht vor den aktuellen Umständen genutzt. Es mag überraschend klingen, aber es hat uns wirklich sehr gut getan, gerade in diesen Zeiten ein Album zu schreiben.

Mir fiel sofort der geniale Titel des Albums auf: "The Nightmare Of Being". Treffender kann man eine Death-Metal-Scheibe kaum benennen, oder?

Nein – ich bin erstaunt, dass bisher niemand auf diese Idee gekommen ist. Und ich frage mich auch, warum noch keiner ein Album über Pessimismus geschrieben hat: Denn diese Thematik passt auch perfekt zu Death Metal. Manchmal muss man einfach Glück haben. (lacht)

Alle Songtitel und -texte handeln von Negativität oder eher: Pessimismus. Was hat euch zu dieser thematischen Grundausrichtung des Albums inspiriert?

Zunächst einmal gibt es einen Unterschied zwischen Negativität und Pessimismus. Ich habe diese Begriffe auch verwechselt, bevor ich anfing, mich in die Thematik der pessimistischen Weltanschauung einzulesen. Eine negative Einstellung ist die eine Sache, dann ist man einfach mies drauf. Pessimismus-Philosophie ist etwas anderes – und führt fast schon zu etwas Positivem. Das ist der besondere Twist, den ich an diesem Konzept mag.

Unser Gitarrist Martin (Larsson, Red.) gab mir das Buch "The Conspiracy Against The Human Race" von Thomas Ligotti, das mich sofort faszinierte. Danach wühlte ich mich immer tiefer in diesen Kaninchenbau und las die Werke verschiedener Philosophen zu diesem Thema. Ich habe versucht, bei der Lektüre Anknüpfungspunkte zu meinen Gedanken und Ideen zu finden. Letztlich führte mich das auf eine emotionale Reise, die ich mit den Songtexten des Albums beschreibe.

tomas lindberg - at the gates saengerTomas Lindberg by Ester SegarraKannst du den Unterschied zwischen Dunkelheit und Pessimismus auf der einen und Negativität auf der anderen Seite nochmal etwas genauer beschreiben? Denn du selbst sagst ja über "The Nightmare of Being": "Es ist ein sehr dunkles Album, aber nicht negativ."

Viele denken, dass ein Pessimist den ganzen Tag mürrisch herumläuft und andere seine Gegenwart nur schwer ertragen. Dabei ist Pessimismus eher ein Konzept, um die Welt zu verstehen und sie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Was mir bei dem philosophischen Ansatz besonders auffiel, ist das Wissen der Menschen um ihre eigene Sterblichkeit als einzige bewusst denkende Spezies auf dem Planeten. Daraus resultieren Angst und Antrieb zugleich.

Viele verfallen dem Denkmuster, dass morgen alles besser sein wird. Sie folgen also dieser seltsam optimistischen Art, das Leben zu sehen, statt es als das anzunehmen, was es ist und die kleinen Dinge zu schätzen. Letzteres wurde ja durch die Corona-Pandemie etwas gefördert: Kleinigkeiten wertschätzen, nicht zu viel erhoffen, keine unmöglichen Ziele setzen. Das Leben wird immer auch Schmerz und Leid mit sich bringen.

Ist man sich darüber im Klaren, kann man mit der Angst vor der eigenen Sterblichkeit besser umgehen und bewusster leben – als hoffnungsvoller Pessimist.

Haben die Pandemie und die vielen weiteren Schwierigkeiten, mit denen Menschen überall auf der Welt tagtäglich umzugehen haben, das lyrische Konzept des Albums ebenfalls beeinflusst?

Unser Konzept für "The Nightmare Of Being" stand schon fest, bevor die Pandemie ausbrach. Außerdem existierten bereits Demoversionen von ein paar Songs. Wir hatten also die Marschroute für ein progressives, düsteres, cineastisches Album mit der pessimistischen Philosophie als inhaltliche Basis gewählt. Dann brach die Pandemie aus. Es war fast wie eine Therapie, an dem Album zu arbeiten.

Du hast aber nicht alle Songtexte selbst geschrieben, sondern hattest für ein Stück einen Gastschreiber.

Ja, die Lyrics zu "Cosmic Pessimism" hat Eugene Thacker geschrieben, ein amerikanischer Schriftsteller und Philosoph. Ich stolperte dank Thomas Ligottis Buch über seinen Namen und habe dann ein paar seiner Bücher gelesen. Anschließend habe ich auf seiner Webseite eine E-Mail-Adresse gefunden und ihn einfach gefragt, ob er bei unserem neuen AT THE GATES-Projekt mitmachen will. Thacker mochte die Idee und hat zugesagt. Es ist wirklich toll, Teil einer Platte zu sein, bei der ein Song tatsächlich von einem Professor geschrieben wurde.

Das ist in der Tat außergewöhnlich. Ich nehme an, er kannte eure Musik vorher nicht, oder?

Nein. Aber in einem seiner Bücher schreibt er über die Verbindung zwischen Pessimismus-Philosophie und seiner Definition von kosmischem Horror. Dabei erwähnt er nicht nur Horrorfilme und -bücher, sondern auch Black Metal. Er weiß also, dass es eine solche extreme Musikszene gibt.

Aber weil wir Schweden sehr bescheiden sind, habe ich ihn nicht gefragt, "Weißt du, wer wir sind?". Es war genau andersherum: Ich habe ihm das Konzept unserer Band wirklich umfassend erläutert.

Die Texte des Albums sind düster, das trifft aber nicht auf die Musik zu. Sie ist experimenteller geworden als auf den beiden Alben zuvor. Der Song "Spectre Of Extinction" beginnt mit einer harmonischen Melodie, bei "Garden Of Cyrus" setzt ihr sogar ein Saxophon ein, in "Cult Of Salvation" ist ein Klavier zu hören. War dieser Kontrast zwischen Inhalt und Sound geplant?

Das Wichtigste für AT THE GATES war es schon immer, jedem Song auch Emotionen zu verleihen. Auf "The Nightmare Of Being" sind Melancholie und Verzweiflung die beiden vordergründigen Gefühle. Man kann aber nicht verzweifelt sein, ohne etwas Hoffnung zu empfinden – das wäre paradox. Außerdem ist Musik nicht spannend, wenn alles nur pechschwarz ist: Dann fehlt die Dynamik.

Das Album hat einen cineastischen Charakter. Auch die Reihenfolge der Songs ist entscheidend, denn durch sie entsteht beim Hören eine dynamisch-emotionale Achterbahnfahrt.

Waren diese progressiven Elemente denn von vorneherein geplant – oder habt ihr sie später zu euren Songs hinzugefügt?

Wir haben schon sehr früh darüber gesprochen, welchen Weg wir mit der Platte einschlagen wollen. Auf dem letzten Album haben wir mit einigen Streicher-Arrangements experimentiert und es hat uns gefallen. Aber wir hatten auch das Gefühl, dass wir noch so viel mehr machen könnten.

Jedes Instrument hat seinen eigenen emotionalen Klang. Und wenn man viele verschiedene Gefühle mit seiner Musik ausdrücken will, dann braucht es unterschiedliche Kompositionen, um dieses Ziel zu erreichen.

Würdet ihr solche Experimente gerne noch weitertreiben, wenn ein Großteil eurer Fans nicht immer auch einen vertrauten, oldschooligen AT THE GATES-Sound erwarten würde?

Ich glaube eher, dass AT THE GATES-Fans da etwas anders sind und von einer neuen Platte herausgefordert und auch ein bisschen überrascht werden wollen. Denn warum sollten sie uns sonst noch hören wollen? Wir sind ja nicht AC/DC, die schon immer so klangen, wie sie klingen. (lacht)

at the gates - nightmare of being album coverArtwork zu "The Nightmare Of Being" von Eva NahonDas Cover-Artwork von "The Nightmare Of Being" gefällt mir extrem gut, denn es visualisiert perfekt albtraumhafte Elemente: Ein brennendes Dorf, geisterhafte Wesen an einem Moor und ein Dämon, der alles beobachtet. Inwieweit hat die Band dieses großartige Gemälde durch ihre Ideen beeinflusst?

Das Artwork stammt von Eva Nahon, einer niederländischen Künstlerin, mit deren Arbeit und Stil ich mich schon länger befasst hatte. Ich wollte gerne mit ihr zusammenarbeiten und war mir sicher, dass mir das Resultat gefallen würde – egal, was sie sich ausdenkt.

Ich schickte ihr also alle Songtexte und unser Grundkonzept für das Album und sagte ihr, "Eine Landschaft wäre toll, sodass man beim Betrachten des Covers in eine andere Welt eintauchen kann“ – das war’s. Alle Details und Ideen stammen von ihr und das Bild ist wirklich supercool geworden.

Deine ikonische Stimme sticht für mich noch immer noch aus der Masse der vielen gleich klingenden Death-Metal-Growls heraus. Wie schwer fällt es dir, nach mittlerweile sieben Alben immer noch diese Leistung abzurufen?

In gewisser Weise wird es für mich sogar einfacher. Damals in den 90ern habe ich mir einfach das Hirn rausgeschrien, da war kaum Technik im Spiel. (lacht) Aber seit unserem Comeback konzentriere ich mich mehr auf technische Details – und fühle mich dadurch viel sicherer. Das Instrument ist ja praktisch in mir drin, aber heutzutage weiß ich eher, welche Muskeln ich beim Singen benutze.

Das letzte Album ("To Drink from The Night Itself", Red.) war für mich die größte Herausforderung. Es hat sehr viel Spaß gemacht, unterschiedlichste Tonlagen mit meinem Gesang herauszuarbeiten.

Wenn’s für dich okay ist, habe ich zum Abschluss noch eine Frage zum musikalischen Vermächtnis von AT THE GATES – auch wenn das bekanntlich nicht zu deinen Lieblingsthemen gehört.

Klar.

Ich habe in einem Review zu eurem Opus magnum "Slaughter Of The Soul" mal gelesen, das Album sei gleichzeitig Fluch und Segen. Einerseits ein brillanter Meilenstein melodischen Death Metals. Andererseits Inspirationsquelle zahlreicher Metalcore- und Göteborg-Sound-Klone. Wie denkst du heute über die Platte und das, wofür sie steht?

Das ist schwer zu sagen. Wir haben "Slaughter Of The Soul" an einem Punkt unserer Karriere geschrieben, an dem wir genau diese Art Musik machen wollten. Mit dem Ergebnis waren wir sehr zufrieden. Für alles, was danach in der Musikszene passiert ist, können wir nicht wirklich die Verantwortung übernehmen.

Klar, gewisse Elemente wie der Gesangstil oder Twin-Gitarren wurden von vielen benutzt. Aber ganz ehrlich: Ich habe bis heute noch keine einzige andere Band gehört, die wie AT THE GATES klingt. Das sagt doch alles.