Spock's Beard - Snow Live (2DVD/2CD) Tipp

Spock's Beard - Snow Live (2DVD/2CD)
    Progressive Rock

    Label: Radiant Records/Metal Blade
    VÖ: 10.11.2017
    Bewertung:10/10

    SPOCK'S BEARD im Web


2. Juli 2016, Cross Plains, Tennessee. SPOCK'S BEARD spielen auf dem Morsefest. Auf einer kleinen Bühne in der New Life Fellowship-Kirche stehen Ted Leonard, Jimmy Keegan, Alan Morse, Dave Meros, Ryo Okumoto, Nick D'Virgilio – und Neal Morse.

Durch irgendeine (göttliche?) Fügung spielen die aktuellen und ehemaligen Mitglieder "Snow" in voller Länge live. Die fast anderthalb Jahrzehnte lang ersehnte, doch nie für möglich gehaltene Reunion der einflussreichsten Progressive-Rock-Truppe der jüngeren Musikgeschichte wird für einen Abend wahr.

"Snow" nach 14 Jahren endlich live

Dass die Wahl auf die komplette Performance des fünften Albums von 2002 fiel, ist alles, nur kein Zufall. "Snow" ist in vielerlei Hinsicht wegweisend. Es ist das letzte Album mit Haupt-Songwriter, Sänger, Keyboarder, Gitarrist und Gründungsmitglied Neal Morse, der kurz nach Veröffentlichung seinen Austritt bekannt gab. Es ist deshalb nie live dargeboten wurden, weil nach diesem Schock an eine Tour nicht zu denken war.

Und es ist das bislang einzige Konzeptalbum, das – stark spirituell geprägt – noch dazu zahlreiche autobiographische Züge aufweist. Mit fast beängstigender Direktheit deutet es rückwirkend Neals Entscheidung an. Das Cover und "I Will Go" sprechen Bände.

Ich liebe "Snow" seit seinem Erscheinen. Mit seiner höchst abwechslungsreichen musikalischen Ausrichtung und der Story rund um den titelgebenden Albino-Wunderheiler ist es für mich das ambitionierteste SPOCK'S BEARD-Werk und zugleich eines der besten Konzeptalben seit QUEENSRYCHEs "Operation: Mindcrime".

Perfekte Umsetzung eines perfekten Konzeptalbums

Die perfekte Live-Umsetzung der sieben unglaublich talentierten Musiker auf dem Morsefest 2016 ist der endgültige Ritterschlag für dieses Prog-Meisterwerk. Dabei ist es im Grunde völlig egal, welchen Song man sich herauspickt, denn in "Snow Live" reiht sich ein Gänsehaut-Moment an den anderen.

Beispiele? Wenn ihr die nötig habt, bitte: Das einleitende "Made Alive", das Neal Morse mit seiner Akustikgitarre einleitet, bevor die komplette Band in der vertrackten, packenden "Overture" vor purer Spielfreude nur so strotzt. Das höchst intensive "Solitary Soul", in dem die drei Lead-Sänger, insbesondere aber Nick D'Virgilio, mit Standing Ovations bedacht werden.

Die mehrstimmigen Gesangsharmonien im Seelenstreichler "Wind At My Back" und im Country-angehauchten, hoffnungsvollen "Stranger In A Strange Land". Die PINK FLOYD-artige Erhabenheit in den entrückten Backing Vocals von "Open Wide The Flood Gates".

Die straighten Rocker "Welcome To NYC", "The 39th Street Blues (I'm Sick)" und "Devil's Got My Throat", in dem Ted Leonard die Lead Vocals übernimmt.

Das kongeniale Gitarren-Duett von Neal und Alan Morse im lieblichen "Carie", das Nick D'Virgilios süßen Vocals fast die Show stiehlt. Die leidenschaftliche Performance von "I'm Dying", in der Neal Morse völlig aus sich heraus geht.

Der zweite Teil von "Freak Boy", in dem Drummer Jimmy Keegan ähnliche Rampensau-Qualitäten unter Beweis stellt und zeigt, was für ein respektabler Sänger er ist. Ryo Okumotos ausladendes Solo. Und schließlich der dramatische Höhepunkt "I Will Go".

Wer bei diesem Schluss kein Pipi in den Augen hat ...

In blaues Licht getaucht steht Neal Morse an seinem Keyboard, wo er mit schmerzverzerrtem Gesicht "Help me, I'm dying" singt. Das Zusammenspiel mit den samtweichen Vocals seines Bruders Alan und der epische, von allen Bandmitgliedern voller Inbrunst vorgetragene Chorus sorgen für eine zentimeterdicke Gänsehaut. Dieses musikalische Genie, das da mit halb geschlossenen Augen und steinerner Entschlossenheit "I will go" intoniert, singt seinen auch nach anderthalb Jahrzehnte unfassbar schwierigen Entschluss, einen anderen Weg zu gehen als SPOCK'S BEARD, in die Welt hinaus.

Allerspätestens bei "Made Alive Again/Wind At My Back" brechen alle Dämme. Man kann nur erahnen, was in Neal vorgeht, als ihm, von seinen Gefühlen überrannt, mit bebenden Lippen und Tränen in den Augen die Stimme bricht. Während seine Band weitermacht, fasst er sich wieder und beendet den Mega-Ohrwurm so emotional, wie es nur möglich ist.

Die glorreichen Sieben

Die familiäre Atmosphäre auf der Bühne ist einmalig, ebenso das Können der Musiker, die oft mehrere Instrumente spielen. Dave Meros liebkost die Saiten seines Basses mit einer wundervollen Inbrunst. Alan Morses Backing Vocals und plektrenloses Gitarrenspiel sind akustisch wie elektrisch verstärkt absolut erstklassig.

Ted Leonard, Frontmann seit D'Virgilios Ausstieg 2011, spielt seine Rolle im Hintergrund absolut professionell. Jimmy Keegan ist ein klasse Drummer und spielt absolut tight mit Nick D'Virgilio zusammen. Der ist sowieso ein Phänomen und für mich der heimliche Star. Man weiß gar nicht, ob er lieber hinter'm Drumkit sitzt oder den leidenschaftlichen Sänger gibt, der in zahlreichen Songs seine wundervolle Stimme solo oder im Duett erklingen lässt.

Und Neal Morse? Wirkt, als hätte er noch letzte Woche mit dem Rest der Band einen Gig gespielt. Was für ein wundervoller Musiker und Komponist, welch ein exzellenter Sänger, der mit einer warmen, einfühlsamen Stimme gesegnet ist.

Es ist noch nicht vorbei ...

Wer nach dieser brillanten, an Perfektion grenzenden "Snow"-Umsetzung die zweite DVD einlegt, darf sich an zwei Zugaben erfreuen: Der von sämtlichen Fans mitgesungene Feel-Good-Akustik-Hymne "June" und "Falling For Forever", das mit Morse und D'Virgilio komponierte und eingespielte neue Epos von der Best Of "The First Twenty Years".

Auch, wenn der Longtrack es nicht ganz mit dem frühen BEARD-Material aufnehmen kann, ist er ein Augen- und Ohrenschmaus – insbesondere, wenn Keegan und D'Virgilio im "Battle Of The Drums" antreten. Im Kontext der Reunion mit allen Mitgliedern wird die Frage, warum nicht ein Klassiker "The Light" oder "At The End Of The Day" performt wurde, obsolet.

Eine einstündige Dokumentation mit Interviews der Bandmitglieder und Ausschnitten aus dem Q&A runden das Material ab. Vor allem die Gedanken von Neal Morse, der sichtlich ergriffen an die Performance und die Trennung zurückdenkt, sind informativ. Man kann diesem Mann (oder Gott) gar nicht oft genug dafür danken, diesen Auftritt mit SPOCK'S BEARD auf die Beine gestellt zu haben.

Perfekter Sound, durchschnittliches Bild, toller Schnitt

Für die Abmischung von "Snow Live" war mit Rich Mouser gleichzeitig der Produzent des Studioalbums verantwortlich. Der Klang der druckvollen, bassbetonten Liveaufnahme ist, obwohl leider nur in Stereo enthalten, sensationell, ja, er besitzt geradezu Referenzcharakter. Die mehrstimmigen Gänsehaut-Vocals kommen auf den Punkt genau aus den Boxen, sämtliche Instrumente sind wunderbar klar zu hören, das Publikum ist sehr präsent. Die beiliegende Doppel-CD mit dem Audiomaterial des Auftritts untermauert dies.

Das Bild der DVD ist okay. Durch den häufigen Einsatz von blauem Licht wirken die Musiker an einigen Stellen überstrahlt, fast schon Comic-artig. Ich besitze ältere Musik-DVDs, die ein besseres Bild aufweisen. Auf der Blu-ray sollte das eine ganze Ecke schärfer sein.

Der Schnitt hingegen ist klasse: Videoclip-artige Stakkato-Schwenks gibt es nicht zu sehen, die Kamera konzentriert sich oft auf die Mimik oder Hände der Musiker und das gesamte Geschehen auf der Bühne. Besondere Momente fängt sie gnadenlos direkt ein.

Perfekte Live-Umsetzung eines Meilensteins

"Snow Live" ist die perfekte Live-Umsetzung eines progressiven Meisterwerkes und bleibt selbst nach dem sechsten, siebten Durchgang höchst emotional und spannend. Ich kann mich an keine Musik-DVD erinnern, die ich mir öfter angesehen habe.

Auch, wenn sich das Lineup-Karussell bei SPOCK'S BEARD in der Zwischenzeit gedreht hat (Jimmy Keegan ist ausgestiegen, Nick D'Virgilio wieder dabei), NEAL MORSE solo die besseren Scheiben als seine Kollegen macht und eine dauerhafte Reunion eine ewige Wunschvorstellung bleiben wird: Näher als mit "Snow Live" wird man dem Traum der wiedervereinten SPOCK'S BEARD nicht kommen. Und das ist eine ganze Menge mehr, als man jemals hätte erwarten dürfen.

Trackliste

Made Alive
Overture
Stranger In A Strange Land
Long Time Suffering
Welcome To NYC
Love Beyond Words
The 39th Street Blues (I‘m Sick)
Devil‘s Got My Throat
Open Wide The Flood Gates
Open The Gates, Part 2
Solitary Soul
Wind At My Back
Second Overture
4th Of July
I‘m The Guy
Reflection
Carie
Looking For Answers
Freak Boy
All Is Vanity
I‘m Dying
Freak Boy, Part 2
Devil‘s Got My Throat, Reprise
Snow‘s Night Out
Ladies And Gentlemen, Mister Ryo Okumoto On The Keyboards
I Will Go
Made Alive Again / Wind At My Back
June
Falling For Forever

Band

Neal Morse: Vocals, Keyboards, Guitars
Alan Morse: Guitars, Backing Vocals
Ryo Okumoto: Keyboards
Dave Meros: Bass, Backing Vocals
Nick D'Virgilio: Vocals, Drums, Guitars
Ted Leonard: Vocals, Guitars
Jimmy Keegan - Drums, Vocals
Ben Clark: Trompete
Nate Heffron: Saxophon