The Gentle Storm - The Diary Tipp

The Gentle Storm - The Diary
Arjen Lucassen und Anneke van Giersbergen - für Kenner der Prog-Szene braucht es sicher keiner weiteren Worte, um die Erwartungshaltung ins Unermessliche zu treiben. Während die ex-THE GATHERING-Frontelfe den großen, langhaarigen Tausendsassa Lucassen bisher auf zwei AYREON-Projekten mit einer Vielzahl weiterer Gastsänger unterstützte und im Universum des Holländers als besonders hell strahlender Punkt auffiel, handelt es sich bei "The Diary" um das erste (Doppel-)Album, in dem die Sängerin jedem Song ihren unverwechselbaren Stempel aufdrücken kann und zudem alle Texte geschrieben hat.

Für die musikalische Richtung ist selbstverständlich Lucassen verantwortlich, der neben seinem Hauptprojekt AYREON seine Fans mit AMBEON, STAR ONE, GUILT MACHINE und (eine Zeit lang) STREAM OF PASSION noch nie gelangweilt hat. Jetzt also THE GENTLE STORM, in dem neben einer ganzen Riege an Gastmusikern ein weiterer alter Bekannter spielt: Ed Warby, seines Zeichens Drummer der Death Metal-Institution OBITUARY und kein Neuling im Klangkosmos  von Lucassen. Das erste Album des neuen Projektes ist ein Konzeptalbum, das sich um eine Liebesgeschichte im 17. Jahrhundert dreht. Passend zum Bandnamen ist "The Diary" auf zwei CDs aufgeteilt, die jeweils die gleichen Tracks beinhalten - einmal in einer sanften, akustischen und folkig angehauchten Version, einmal als symphonische Progressive Metal-Variante, wie man sie von Lucassen kennt. Also ganz, wie der Bandname es schon andeutet: einmal "gentle", einmal "storm". Ob Methode oder Faulheit hinter der recht simplen Namensgebung steckt, kann dem Hörer erst einmal egal sein. Interessanter ist da schon die Frage, ob Lucassen nicht ein zu enges Korsett schnürt. Ist THE GENTLE STORM als einmalige Sache geplant? Sollen zukünftige Alben auch das Konzept der ruhigen und harten Seite auf zwei CDs übernehmen? Oder spielt der Name demnächst keine Rolle mehr, und ruhige wie harte Stücke werden bunt auf einer Scheibe miteinander vermischt?

Aber das ist Zukunftsmusik. Manche von Lucassens Projekten wie AMBEON oder GUILT MACHINE waren (leider!) einmalige Geschichten, und wir sollten froh sein, einer solchen Kollaboration überhaupt lauschen zu dürfen. Sowohl Lucassen als auch van Giersbergen reizen auf beiden CDs alles aus, was ihre Erfahrung und Porfessionalität her gibt. Auf "Gentle", der ruhigen Seite von "The Diary", sind das sanfte, sehr melodische Folk-Stücke mit Streichern, Flöten und Piano-Untermalung, veredelt von der süßen Stimme van Giersbergens, die wunderbar zur im 17. Jahrhundert in Holland angesiedelten Liebesgeschichte (Junge und Mädchen verlieben sich, Junge sticht in See, Mädchen ist einsam zu Hause, beide kommunizieren über Briefe) passt. Vor einem solchen Kontext darf natürlich auch nicht das Rauschen der See fehlen, das den Hörer gleich zu Beginn erwartet. Lucassens akustische Gitarren harmonieren perfekt mit van Giersbergens Vocals. Dabei gestalten THE GENTLE STORM einige Passagen und ganze Songs wie "Heart Of Amsterdam" jazzig, was die Nummern doch deutlich von den härteren Ausführungen auf der Schwester-CD unterscheidet. Überraschenderweise gibt es ein, zwei Songs, die als Akustikversion sogar düsterer klingen als die "Storm"-Fassungen, z.B. das unrihge "The Storm", das man sofort als passende musikalische Untermalung für einen Sturm auf hoher See vor Augen hat.

"The Storm" macht als Kontrast seinem Namen aller Ehre. Im Opener "Endless Sea" dauert es zwar eine Weile, bis die harten Gitarren und knackigen Drums durchbrechen, doch von den ersten Sekunden an versprüht die Nummer bereits eine dunkle Atmosphäre, die zur kalten, endlosen und stürmischen See passt und von harten Hammerschlägen begleitet wird. "Heart Of Amsterdam" klingt dann auch gleich um Einiges kräftiger als die ruhige Version, und dann wird es mit "The Greatest Love", das in der harten Version ein Progressive Metal-Ohrwurm allererster Güte ist, richtig fett und episch. Auch das Mini-Epos "Shores Of India" klingt als harte Version zwar nicht mehr ganz so exotisch, aber bombastisch, dramatisch, nach Breitwand-Kino im Orient. "Typisch Lucassen", möchte man sagen, und ja: In einer ähnlichen Form könnte eine solche Nummer auch auf den besten AYREON-Alben stehen. Egal, ob "Cape Of Storms", das ruhige "The Moment" oder "Brightest Light": In den "Storm"-Versionen sind die meisten Songs nicht etwa temporeich, sondern im Midtempo umso intensiver arrangiert und ein Segen für jeden Fan von Anneke van Giersbergens Vocals vor einem metallischen Gewand.

THE GENTLE STORM hüllen das lyrische Konzept von "The Diary" perfekt in zwei musikalische Gewänder, deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten extrem gut miteinander harmonieren - wobei mir "The Storm" wegen seiner härteren Ausrichtung ein wenig besser gefällt. Über das musikalische Genie Lucassen, der die akustische Gitarre ebenso virtuos zupft wie er epische Riffs aus seiner E-Gitarre haut, die unvergleichlichen, gefühlvollen Vocals von Anneke van Giersbergen und die variablen Drums von Ed Warby brauchen keine weiteren Worte verloren zu werden. Ebenso wenig über den transparenten Klang, der mit knarrenden Dielen und kleinen, kontextbezogenen Sounddetails zum Seefahrer-Gefühl beiträgt und "The Diary" zu einem Konzeptalbum macht, in dem man musikalisch und textlich völlig aufgehen kann.

"The Diary" ist übrigens als Doppel-CD, 3-fach Vinyl inkl. Doppel CD und Artbook mit vier CDs (Album plus beide Versionen als Instrumental) erhältlich. Ich hoffe, nein, ich bete, dass das erste nicht gleichzeitig auch das letzte THE GENTLE STORM-Album sein wird!

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