"Even In Arcadia" ist stilistisch (zu?) vielfältig
Auch auf "Even In Arcadia" lässt sich die von Hauptakteur Vessel kreierte stilistische Vielfalt nur schwer in Worte fassen. In seiner 57-minütigen Gesamtheit benötigt der vierte SLEEP-TOKEN-Output einige Durchgänge, bevor die zehn Songs zugänglich werden und Sinn ergeben.
Alternative Metal, Progressive Metal, Indie-Rock, Post Metal, Avantgarde, Ambient, Electronic, Trip Hop, Pop – die Spannbreite reicht nicht nur auf Albumdistanz, sondern auch innerhalb der einzelnen Songs vom einen Extrem ins andere.
Ein schönes Beispiel ist "Caramel", das unscheinbar trip-hoppig beginnt, mit Vessels eindringlichen Vocals vor rhythmisch vertrackten Drums von II in eine progressive Richtung läuft und schließlich in einem gnadenlos heftigen Black-Metal-Gewitter mündet. Entgegen des Chorus' "Stick to me like caramel" wackeln die Wände so heftig, dass hier gar nix mehr kleben bleibt.
Der um Wave- und Gothic-Anleihen versehene Titeltrack erinnert mit seinem dramatischen Aufbau, Piano und Streichern latent an moderne ANATHEMA, während im letzten Drittel des finalen Epos' "Infinite Baths" ein verstohlen grinsender DEVIN TOWNSEND um die Ecke lugt.
"Past Self" hingegen setzt rein auf trip-hoppige Ambient-Sounds und hat mit Rock oder Metal nullkommanix zu tun. Relativ konsistent tönen der melancholische Midtempo-Groover "Provider" oder der einschmeichelnde Ohrwurm "Damocles", während "Emergence" nach einem brachialen Gewitter mit völliger Selbstverständlichkeit von einem entspannten Saxophon beschlossen wird.
Und dann sorgt "Gethsemane" nach engelsgleich hohen Vocals mit seinem vertrackten Rhythmus für Knoten in den Gehirnwindungen, bevor einer dieser epischen Breitwand-Refrains für ein seliges Lächeln sorgt.
Musik für die Massen?
Stellt sich die Frage, wie sehr "Metal" SLEEP TOKEN überhaupt (noch) sind. Oder (jemals) waren. Die Vorliebe für ruhige und balladeske Songs ist in der Bandgeschichte fest verankert und wird auf "Even In Arcadia" gefühlt noch stärker ausgekostet. Gleichzeitig sind satte Riff-Kaskaden, brutale Ausbrüche und allen voran das vertrackte Drumming von II alles andere als massentauglich.
Und vermutlich ist es genau diese undefinierbare musikalische Mischung, die den Erfolg von SLEEP TOKEN erklärt. Gepaart mit der konsequenten Haltung, nicht auch nur irgendeinen persönlichen Schnipsel von sich preiszugeben und als Mysterium weiter zu bestehen. Dazu passt die minimalistische Aufmachung von "Even In Arcadia": Das ausklappbare Booklet bietet keine relevanten Infos, ganz zu schweigen von Lyrics.
SLEEP TOKEN sind und bleiben ein Phänomen
Irgendwas machen Vessel, II und die tourenden Mitmusiker jedenfalls richtig. Auch, wenn "Even In Arcadia" stellenweise arg poppig, elektronisch, poliert und wenig nach Stromgitarren klingt – das alles unter einen Hut zu bringen, mit einer solchen Selbstverständlichkeit, solch Einfallsreichtum und Eingängigkeit, ist die wahre Kunst hinter diesem Phänomen und nötigt eine gehörige Portion Respekt ab.
Wer mit einer furiosen Großtat wie dem wunderschönen "Infinite Baths", in dem sich SLEEP TOKEN achteinhalb Minuten lang von ihrer stärksten Seite zeigen, oder dem packenden, ebenfalls überlangen Opener "Look To Windward" nicht glücklich wird, dem ist kaum zu helfen.
Da auf "Even In Arcadia" die Genre-Grenzen extrem verschwimmen und die Experimentierfreude noch stärker ist als in der Vergangenheit, rate ich dazu, sich ganz bewusst Zeit zu nehmen und sich ausgiebig mit dem vierten Album der Londoner Ausnahmeerscheinung zu beschäftigen. Es lohnt sich.
"Even In Arcadia" Trackliste:
- Look To Windward - 7:45
- Emergence - 6:26
- Past Self - 3:35
- Dangerous - 4:11
- Caramel - 4:50
- Even In Arcadia - 4:28
- Provider - 6:06
- Damocles - 4:25
- Gethsemane - 6:23
- Infinite Baths - 8:23