Sein erstes Projekt "Tattooed Millionaire" (1990) und den Reinfall "Skunkworks" (1996) mal ausgeklammert, hat Dickinson solo stets abgeliefert. Das beweist nicht nur die nach einer langjährigen Durststrecke 2024 veröffentlichte Glanztat "The Mandrake Project" sowie zuvor "Tyranny Of Souls" (2005), sondern insbesondere das magische Triumvirat Ende der Neunziger, mit dem die Air Raid Siren die wesentlich stärkeren Alben ablieferte als seine damals ehemalige Band mit "The X-Factor" und "Virtual XI".
Den Brechern "Accident Of Birth" (1997) und "The Chemical Wedding" (1998) folgte "Scream For Me Brazil" (1999), das die bis dato besten Dickinson-Nummern in einem bärenstarken, schnörkellosen Live-Gewand präsentierte - für mich immer noch eines der besten Beispiele dafür, wie man rohe Live-Power auf CD pressen kann.
Zurück zu "Balls To Picasso", das 1994 den Beginn der fruchtbaren Kollaboration mit Roy Z und dessen Band TRIBE OF GYPSIES markieren sollte. Im Vergleich zu späteren Solo-Werken sind die Songs rockiger und experimenteller, was insbesondere das locker-flockige "Shoot All The Clowns" mit seiner Rap-Einlage oder der schleppend-grungige, überlange Opener "Cyclops" zeigen. Umso faszinierender, was Dickinson und seine Mitstreiter mit dezenten Überarbeitungen auf "More Balls To Picasso" erreichen.
Ob das Bläser-Ensemble in "Shoot All The Clowns", die indigenen Instrumente in "Gods Of War" oder die sanfte Orchestrierung, welche die Jahrhundert-Hymne "Tears Of The Dragon" noch epischer wirken lässt: mitsamt zusätzlicher Gitarren und dank eines frischen Mixes holen die Tweaks so viel mehr aus dem eher unscheinbaren Original heraus, dass ich mich mit jedem Durchlauf mehr in die Scheibe verliebe. "More Balls To Picasso" ist ein Paradebeispiel für den respektvollen Umgang mit seiner eigenen musikalischen Vergangenheit, ohne den ursprünglichen Spirit zu verleugnen. Eine Neuinterpretation mit Eiern eben.
Komplettiert wird die Tracklist von zwei bisher unveröffentlichten Live-Aufnahmen aus dem Studio ("Gods Of War", "Shoot All The Clowns") - nett, aber auch irgendwo verzichtbar. Apropos Verzicht: Im Vergleich zum 2001er Remaster von "Balls To Picasso" fehlt eine ganze Menge an Material, nämlich alle 16 Songs, die sich auf einer Bonus-CD befanden. Dabei handelte es sich um diverse Mixe, Demos und alternative Versionen - darunter cooles Zeug wie das experimentelle, auch von "The Best Of Bruce Dickinson" bekannte "No Way Out... Continued". Von Interesse eher für eingefleischte Fans, doch im Kontext einer Neuauflage auch nicht gerade irrelevant. Ich meine, der Kram wurde bereits veröffentlicht. Wieso presst man das Material nicht einfach auf eine zweite Disc und schnürt ein Komplettpaket daraus?
Idealerweise mit dem Dolby-Atmos-Mix. Wo ist der eigentlich? Schließlich erklärt Dickinson selbst: "Während ich meinen gesamten Katalog in Dolby Atmos abmischte, verspürte ich den brennenden Wunsch, die Platte neu zu interpretieren und neu zu erfinden." Der neue Mix hätte doch prima auf einer Blu-ray Platz gefunden. Oder kommt die später und darf separat erworben werden? Dann hätte man die Veröffentlichung von "More Balls To Picasso" auch noch ein paar Monate nach hinten verlegen können...
Sei's drum: in seiner liebevoll erweiterten Neuauflage macht "More Balls To Picasso" eine richtig gute Figur. Vielleicht nicht ganz so gut wie alles ab "Accident Of Birth" mit seiner modernen Metal-Gewalt, doch definitiv besser als auf dem eher blassen Original.
"More Balls To Picasso" Trackliste:
01. Cyclops
02. Hell No
03. Gods Of War
04. 1000 Points Of Light
05. Laughing In The Hiding Bush
06. Change Of Heart
07. Shoot All The Clowns
08. Fire
09. Sacred Cowboys
10. Tears Of The Dragon
11. Gods Of War (Live In The Studio)
12. Shoot All The Clowns (Live In The Studio)