Gabriele Bellini - Evolution Tipp




Stil (Spielzeit): Experimental / Progressive Rock (1:01:13)
Label/Vertrieb (VÖ): Lost Sounds (irgendwann.09)
Bewertung: 9,5 / 10


Link(s): Home / Myspace
Heilige Maria & Josef, steht mir bei... diese Scheibe ist ein Traum und des Rezensenten Alptraum... nun läuft sie gerade das dritte Mal heute Abend, das sechste Mal insgesamt und ich weiß nicht wie und was mir geschieht... Und doch glaube ich das eklektizistische Genrehopping schon beim ersten Umlauf verstanden / gefühlt zu haben!?
Dass ich die „Evolution" grandios finde, sagt ja obige Benotung... Nur was ist das hier, das 9,5 Punkte einfährt? Avantgarde? Progressiv? Ha-ha! Totale Untertreibung. Eine neue Evolutionsstufe des gitarrenorientierten Rock? Hmm... Am ehesten trifft's wohl: ein kolossaler Mindf**k oder "Soundtrack zur Postmoderne". Anything goes!

Gabriele Bellini ist ein italienischer Gitarrenforscher, der hier sein drittes Forschungsprojekt vorlegt und den ich zum ersten Mal genießen darf. --- Mit der typischen Rumhudelei à la Malmsteen und anderen Stunt-Gitarristen haben die Divertimenti und Phantasien, die Bellini hier ausbreitet aber nicht viel zu tun. Es gibt zwar auch reichlich Hochgeschwindigkeitsfingerübungen, die nach übler Sehnenscheidenentzündung klingen, aber Bellini hat offenbar mehr im Sinn, als mit egomaner Griffbrettakrobatik zu glänzen. Vieles was er spielt, ist unglamourös, aber wie er es kombiniert, in immer neuen Kaskaden verschachtelt, ist zum Zungeschnalzen. Auf seinem Griffbrett / in meinem Kopf kollidieren / explodieren (Prog-) Rock, diverse Metal-Spielarten (von Heavy über Speed bis Death), moderner Jazz, Trance, World Music, symphonische und akustisch-folkloristische Träumereien... Feuerwerksmusik.
Derlei „Knaller" haben in der Regel eine zu kurze Lunte, gehen dem Urheber zwischen den Fingern los. Und mein Fall ist das sonst auch überhaupt nicht... Für gewöhnlich ist das ja eher künstlich als kunstvoll...

„Künstlich" ist hier (allenfalls, das aber oft) nur der Gitarrensound. Diverse Effekte sorgen neben ungewohnten Genrekombinationen für ganz neuen Hörgenuss. Dass das auch wirklich einer ist, hat mindestens zwei Ursachen:

1.) Bellini ist ein geiler Komponist: Seine Stücke, egal wie kompliziert aufgebaut, sind immer schlüssig. 
Denn 2.) hat sein Spiel (egal wie technisch verfremdet) auf 6, 12 oder 19 Saiten (Sitar) extrem viel Seele; und so gelingt ihm das Kunststück mit seinen Kunst-Stücken echte Atmosphären aufzubauen. Nicht nur dann, wenn er sich eher konventionellerem Spiel hingibt, sondern auch die zahlreichen Dissonanzen sind weit mehr als bloß Störgeräusche.

Und weil die Mitmusiker -- besonders Drummer Adriano Togniarini & Keyboarder Simone Palma -- sich kongenial (und) stark einbringen, wenn es sein muss, aber auch die Kunst des sich Beherrschens beherrschen, ist nicht nur die Scheibe rund, sondern auch was drauf ist.
Bei Bedarf männlicher oder weiblicher Gesang. Oft bedarf es dessen nicht. --- Doch wenn sie kommen, kommen sie gut. Dies ist vor allem im zweiten Teil der Scheibe der Fall; mit andauernder Spielzeit werden die Stücke insgesamt immer "songähnlicher".

Fazit: Bellini ist kein zweiter Blackmore oder Uli Jon Roth und zum Glück kein zweiter Malmsteen oder Vai, sondern ein erster Gabriele Bellini.

Aber: bei aller subjektiven Begeisterung ist zu befürchten, dass es Vielen so gehen wird wie dem Kollegen, der 1 von 10 Punkten für die Scheibe vergab: den Punkt gab's für den Mut, diese „akustische Umweltverschmutzung" zu veröffentlichen. Schade. Für die Band. Und für jeden, scheuklappenfreien Musikliebhaber, der sie deswegen nicht ancheckt...