Ein neues Kapitel
Auf der verzweifelten Suche nach Punkrock, der in Sachen Melodien und Harmonien F.O.D. das Wasser reichen kann, war ich bereits vor einiger Zeit über das belgisch-niederländische Projekt ST. PLASTER gestolpert. „Projekt“? Damals eine zutreffende Bezeichnung, hatten Tim van Doorn (u.a. THE TRAVOLTAS) und Adrian Delange (u. a. CALL IT OFF, MAYLEAF) schließlich direkt von Anfang an deutlich gemacht, es handele sich um eine einzige Albumveröffentlichung (das selbstbetitelte Debüt erschien 2019) und ein paar Auftritte – danach sei schon wieder Schluss.
Zum Glück sieht man das inzwischen wohl anders. Im Mai 2025 erschien nun der Nachfolger „II“, der, verfolgt man ST. PLASTERs Social-Media-Beiträge zurück, wohl schon seit mehreren Jahren in der Mache gewesen war. Und vielleicht kann man jetzt auch vorsichtig von „Band“ sprechen – immerhin wurden die bisherigen Live-Musiker Remy Dekkers (dr.) und Hans Roofthooft (b., v.) offenbar fest ins Team aufgenommen.
Ein Album wie "Barbenheimer" (nur kürzer)
Was erwartet den geneigten Punkrock-Interessenten? Auf dem Debütalbum hatte sich schon einiges an Potenzial abgezeichnet: Solide Riffs, tanzbare Rhythmen, eingängige Refrains und ein gewisses Endneunziger-/Millennium-Skatepunk-Nostalgiefeeling (selbst für mich, nie in der entsprechenden Szene gewesen). Aber der aktuelle Output katapultiert das alles auf ein völlig neues Level.
Mehr Geschwindigkeit, mehr Aggression, mehr Düsterheit, gleichzeitig mehr Humor, mehr Melodie und mehr Schmalzakkorde – einfach mehr von allem! Kennt ihr die "Barbenheimer"-Memes? ST. PLASTER – II ist genau das als Punkrockplatte.
Angefangen mit einem 19-sekündigen A-cappella-Intro, das an einen schaurig-ergreifenden Choral erinnert, wechseln sich in den folgenden knapp 38 Minuten wütende Shouts und blitzschnelle Shreddings mit zuckersüßen Chören und fröhlichen Singalong-Stellen ab. Dabei greift alles so nahtlos, organisch und geschmeidig ineinander, dass man weder Grund noch Zeit hat, diese Kombinationen zu hinterfragen. Alles wirkt rund, deutlich reifer, noch kreativer und vor allem eigenständiger als auf dem Debüt.
Thematisch sind ST. PLASTER ihrer sarkastisch-politischen Linie treu geblieben – neben Trump (der Song „Moron“ erschien vorab am Tag der US-Wahl) bekommt auch der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders sein Fett weg, und es geht immer wieder um Verschwörungserzählungen, Medienkritik und Diskussionskultur.
„I Hate You For You“ und „The Other End“ überraschen dagegen mit Selbstzweifeln, z.T. bis in die Meta-Ebene hinein („Voting for people who only point out what’s wrong / is as meaningless as complaining about it in a fucking song”). „You’re So Goddamn Loud“ über diesen semi-informierten, aber äußerst positionsstarken Menschenschlag, den wir alle kennen, ist mein persönliches Lyrics-Meisterwerk dieser Platte.
17 Liter Herzblut
ST. PLASTER – II präsentiert seine 17 Tracks als ein bemerkenswert klug zusammengefrickeltes Gesamtkunstwerk, das die Professionalität und Brillanz jahrelanger harter Arbeit widerspiegelt – und gleichzeitig die Leichtigkeit einer Gruppe talentierter Freunde mit ein paar Drinks. Mit dem in diese Produktion geflossenen Herzblut könnten wohl im Ernstfall etliche Leben gerettet werden.
Dass dafür im Studio Register gezogen wurden, die live nur schwer darstellbar sind (Zitat Tim: „We wrote songs we can’t play“), hält die Jungs nicht davon ab, Ende Juni bei Jera On Air aufzutreten – leider allerdings voraussichtlich der einzige Livegig dieses Jahr. Sollte sich Weiteres ergeben: Ich komme mit dem allergrößten Vergnügen vorbei!
Trackliste:
01. A Brief Oral Introduction
02. Fake News
03. Apple Pie
04. Apples & Oranges
05. No-one Likes A Smartass
06. Insignificant
07. Infil-Traitor
08. Dance Monkey, Dance
09. You’re So Goddamn Loud
10. I Hate You For You
11. Previously On Your Life
12. Lottery
13. Madagaskar, Really?
14. Moron
15. Purgatory
16. Do The Ostrich
17. The Other End