Seit Tagen habe ich einen Ohrwurm. Ein herrlich mitreißender Powermetal-Track, flott und melodisch, Dauergrinsepotential – genau, wie ich es mag. Am liebsten würde ich ihn auf voller Lautstärke durch meine Kopfhörer jagen und alle, die nie danach gefragt haben, mit dem Direktlink belästigen. Das wird aber erst in einigen Monaten möglich sein, denn dieser Song ist noch gar nicht veröffentlicht.
Von der Idee zur Studioluft
Mehr als ein Jahr ist es jetzt her, dass ich irgendwo im Internet auf „claim perk“ geklickt habe. Die österreichische Happy-Hippo-Wahnsinnsmelodik-Formation DRAGONY hatte im Februar 2024 eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, um die Produktion ihres neuen Albums „Hic Svnt Dracones“ auf ein höheres Level heben zu können.
Crowdfunding – ein so einfaches wie faires Modell: Fans „spenden“ im Vorfeld für die Realisierung des Albums, dafür bekommen sie mehr als nur die Musik. In diesem Fall hatte der geneigte Drachensupporter die Qual der Wahl: Vom digitalen Album (14 €) über Tonträgerpakete wie „CD + Shirt“ oder „Vinyl Collection“ bis hin zu einer unterschriebenen Gitarre, einer Rollenspielrunde mit der Band oder einem Privatkonzert (899 €) standen etliche Anreize („perks“) zur Verfügung.
Mit Erfolg: 10.000 € hatte die Band einnehmen wollen, über 11.000 € waren bis zum Stichtag zusammengekommen.
Mir war damals direkt die Aktion „The Dragon’s Cry“ aufgefallen: Wie bitte? Man darf Backgroundvocals für eine Singleveröffentlichung einsingen? Mit Bandmitgliedern? In einem echten Studio? Ohne Casting? Für nur 70 €? Count me in! (Nicht ganz durchdacht hatte ich, dass die Kosten für Anreise, Unterkunft und Verpflegung geringfügig höher und leider nicht zugunsten der Band ausfallen würden, aber hey – es gibt Schlimmeres als ein Wochenende in Österreich!)
Keine Perfektion, nur Power
Fast forward: Ende Mai 2025 klingele ich mittags an einem Gittertor irgendwo in einem äußeren Bezirk Wiens. Sekunden später öffnet ein gut gelaunter Siegfried „Sigi“ Samer (v) die Tür und bittet mich zwei Treppen weiter in ein kleines Aufnahmestudio, wo bereits Mat Plekhanov (g), Maria Nesh (RED EYE TEMPLE) und einige Fans locker quatschend bei Snacks und Drinks versammelt sind.
Als alle Teilnehmer (drei Frauen und drei Männer) eingetroffen sind, schickt Sigi uns Lyrics auf die Handys und führt uns, bescheiden herumschlendernd, sein neuestes Werk vor – besagten Powerkracher, der als Standalone-Single im kommenden Herbst erscheinen wird. Einzige Anweisung an uns: Es geht heute nicht um perfekte Intonation, sondern nur darum, „Masse“ hinzuzufügen.
Gut zu wissen, denn ein paar nicht ganz anspruchslose Sprünge hält der Refrain, den wir chorisch verstärken sollen, durchaus bereit. Die Stelle dürfen wir mehrmals hintereinander anhören, um uns mit Melodie und Text vertraut zu machen, dann werden wir in Kleingruppen ans Mikro gebeten. Spätestens jetzt kickt bei mir ordentlich Nervosität rein, aber je öfter wir die 16 kurzen Zeilen vor uns hinschmettern, desto mehr stelle ich fest, dass es eigentlich ganz entspannt ist: einfach mitsingen und Spaß haben – sie werden schon irgendetwas draus machen.
Und tatsächlich klingt das vorläufige Ergebnis, das Mat auf die Schnelle zusammengezaubert hat, schon gar nicht schlecht, obwohl das Finetuning ja erst noch kommen soll. Technik macht’s möglich. Ich werde einfach überall erzählen, dass wir uns im Vorfeld mit exzellenten Gesangsleistungen in einem langwierigen Auswahlprozess gegen hochkarätige Konkurrenz durchsetzen mussten.
Mehr als erwartet: RED EYE TEMPLE ruft
Und da wir schon mal hier sind, dürfen wir sogar noch mehr einsingen: Zwei Songs von RED EYE TEMPLE, dem Projekt von Maria, Mat und Mats Bruder Sam, benötigen ebenfalls noch etwas Hintergrundfülle. Da lassen wir uns natürlich nicht lang bitten – wobei zumindest die Mädelsfraktion ein wenig an ihre Grenzen stößt, als es um rauere Vocals geht. Dafür steigt der Spaßfaktor noch weiter, beim Versuch, die rhythmischen Shouts mit der angemessenen Eindringlichkeit rauszuhauen.
Erstaunlich schnell sind die Songs im Kasten (ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?) und es wird zum gemütlichen Teil übergegangen. Ich darf Sigi für BurnYourEars noch ein paar Löcher in den Bauch fragen (zum Interview hier) und dann klingt der Nachmittag bei ein paar weiteren Getränken aus. Ganz ehrlich: Wenn das kein perfekter Fanservice ist, was dann? Jetzt heißt es nur noch, Augen und Ohren offenhalten: Im Herbst zündet ein kleines Powermetal-Feuerwerk!
„The Dragon's Choir“ mit Mat (3. v. l.) und Siegfried (4. v. l.) im Studio / Bild: Karin Fechner