Nine Inch Nails - Year Zero



Stil (Spielzeit): Industrial (63:42)
Label/Vertrieb (VÖ): Interscope (16.4.2007)
Bewertung: Fantastisch. [9/10]
Link: http://www.nin.com/
http://www.yearzero.de/

Im Jahre 1975 reißen die Roten Khmer um Pol Pot die macht in Kambodscha an sich und beginnen mit einer neuen Zeitrechnung. Achtundvierzig  Jahre später, nämlich 2022, herrscht in den Vereinigten Staaten ein autoritäres Regime, das der Bevölkerung unter anderem die Droge Parepin verabreicht und ebenfalls mit einer neuen Zeitrechnung beginnt. Jahr Null eben. Dieses Regime zeichnet möglicherweise auch für den Atombombenabwurf auf Teheran 2009 - also 13 BA (Born Again), dreizehn Jahre vor dem Jahr Null - verantwortlich. Verwirrt?

Was, außer pornografischen Inhalten, verbreitet sich schnell im Internet? Richtig: Verschwörungstheorien. Diesen Braten hatte auch eine der wichtigsten Bands der Popkultur gerochen und verfolgte die letzten Monate konsequent die wohl seltsamste, innovativste und außergewöhnlichste Strategie, um ihr anstehendes Werk "Year Zero" schmackhaft zu machen. Zufällig gefundene USB-Sticks auf den Toiletten während der Konzerte beinhalteten Stücke, die prompt und gewollt im Internet landeten. Spektralanalysen verschiedener Stücke ergeben Telefonnummern, hinter denen sich in Morsecode-Protokolle mysteriöser Verhöre finden. Versteckte Links führen zu Internetseiten, die über die fiktive Droge Parepin berichten und die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Droge nicht, wie von Regierungsseite propagiert, dazu dient, dem biologischen Terrorismus zuvorzukommen, sondern viel mehr die Bevölkerung ruhig halten soll. Selbst der Aufdruck des Datenträgers soll bei manchen schon nach dem ersten Spielen die Farbe geändert haben und ihnen mysteriöse Zahlenkombinationen offenbart haben.
Von einem reinen Konzeptalbum kann bei diesem Umfang schon kaum mehr die Rede sein. Trent Reznor und seine Mannen habe eine eigene, geheimnisvolle und düstere Zukunftsvision geschaffen, die entdeckt werden will. Doch wie steht es um die Musik?

Die graue Eminenz zeigt sich eisern. Der auf der nicht unumstrittenen "With Teeth"-Platte eingeschlagene Kurs wird beibehalten; Zeichen von Reue sucht man vergebens. Fruchtig, grau-bunt und nur selten im Ansatz lärmig zieht sich der moderne Industrial Rock durch die sechzehn Stücke.
Entwicklungen lassen sich erstmals in "Vessel" ausmachen, dessen Schläge förmlich aus den Membranen der heimischen Lautsprecher fliegen. Wie vor etwa zwei Jahren musikalisch angekündigt, spielen Gitarren keine allzu wichtige Rolle mehr. Alles, was sich synthetisieren lässt, wird durch elektronische Geräuschklumpen ersetzt, die sicher nicht jedem schmecken werden. Piepsige, brummende, hämmernde und schleifende Klänge vereinen sich zu scheinbar undurchsichtigen Lärmwolken, lösen sich Stück für Stück in sanften Keyboardklängen auf und ebnen den Weg für den niedergeschlagenen, resignierten Gesang des Masterminds.
Der Anteil instrumentaler Passagen hat insgesamt zugenommen, sorgt aber auch für Längen in der Komposition, die sicher einiger Gewöhnungszeit bedürfen. "The Warning" zum Beispiel ist eines der Stücke, das zunächst anstrengend, unrhythmisch und viel zu elektronisch wirkt, entwickelt aber nach einer gewissen Zeit einen eigenen Charme. Wenn nämlich diese zunächst verstörenden und befremdlichen Haufen elektronischen Unrats nach mehrmaligem Hören ihre Schönheit und Vielfalt preisgeben. "Another Version Of The Truth"  und "Zero Sum" sorgen für schönste Gänsehaut und könnten bei einem Konzert die eine oder andere Träne aus der Reserve locken, davon bin ich überzeugt.
"Meet Your Master" ist neben dem vielleicht bereits bekannten "Survivalism" eines der wenigen prompt eingängigen Stücke. Alle anderen wirken erst nach mehreren Dosen, dafür dann aber richtig.
Der apokalyptische Dusterpop erklärt sich aus dem Konzept, und trotz der eigentlich leichten Töne bleibt die Entspannung zunächst trocken, wie ein nuklearer Winter, in der Kehle stecken. Akzeptiert man aber die entstellte Schönheit, offenbart sich dem Hörer ein akustischer Hochgenuss, der seinesgleichen sucht. In Sachen Geschwindigkeit und Titelspielzeit wurde ebenfalls gespart; keines der Stücke hat eine nennenswerte Überlänge oder geht annähernd über das Tempolimit hinaus. Ruhe und Gleichmäßigkeit ersetzen zwar rasante Lärmeskapaden und Noise-Experimente, doch geht dabei nichts von dem irgendwie unheimlichen, dunkelblauen Geist verloren.

Wie kaum anders zu erwarten, entsteht bereits beim zweiten Durchlauf ein dünnes, aber festes Band zu den abwechselungsreichen Stücken, das sich sicherlich noch ausbauen lässt. Trotz der Ruhe, die das mittlerweile sechste Album ausstrahlt, kommt keine Langeweile auf, und die Stücke werden mit jedem Mal zugänglicher.
Auf jeden Fall einer der größten Würfe dieses Jahres. Anspruch, Dunkelheit, Elektronik und Popmusik haben sich selten so gekonnt verbunden. Da mir "With Teeth" ohnehin bereits gefallen hat, bin ich vollkommen zufrieden mit diesem mehr als nur würdigen Nachfolger. Die Alteingesessenen aber, die mit der "Without Balls" bereits ihre Probleme hatten, werden dieses Mal sicher nicht so zufrieden wie ich urteilen.