Nicht nur seine Stimme, auch seine musikalischen Erfahrungen sind vielseitig: Hagen Hirschmann ist in unterschiedlichsten (Sub-)Genres zu Hause. Seit 2017 bringt er als Leadsänger von VAN CANTO Freunde fetziger A-cappella-Klänge zum Ausrasten, daneben metallisiert er hin und wieder subtil Bargäste bei gepflegter Unterhaltungsmusik. Seine Wurzeln liegen im Death- und Thrash-Bereich – und dann gibt es da noch dieses langjährige powermetallische Herzensprojekt LOGAR’S DIARY. Eigentlich wollte ich nur ein Bandportrait über letzteres verfassen. Aber Hagen pitcht mir darüber hinaus das Dissertationsthema „Selbstverwirklichung und strukturelle Herausforderungen für den Banderfolg unter besonderer Berücksichtigung verschiedener Arten von Bandgefüge“ oder so ähnlich – Ein Deep Dive hinter die Kulissen? Na, das lässt man sich entgehen!
Hagen, eins vorab: Was bedeutet für dich eigentlich „Erfolg“ im Bandkontext – sind es Albenverkäufe, Live-Shows, große Hallen, hohe Streamingzahlen…?
Ja, „Erfolg“ ist natürlich total schwammig. Jeder Punkt für sich allein kann ein super Gefühl machen! Ein gut verkauftes Album ist einfach total toll; man braucht auch nicht unbedingt Shows, um das genießen zu können. Und umgekehrt kann man auch die ganze Zeit live spielen, jahrelang nichts Neues rausbringen und sich trotzdem erfolgreich und fit fühlen. Vielleicht ist es aber genau die Summe aus diesen ganzen Faktoren. Auf jeden Fall hat es immer was mit irgendeiner Art von Publikumsfeedback zu tun.
Du hast ja im Laufe der Zeit in verschiedensten Bands gespielt. Welche Arten von Bandgefüge hast du da kennengelernt?
Ich würde sagen, es gibt alle möglichen Ausprägungen, aber zwei Grundkonzepte. Entweder hat die Band eine Art Mastermind und alle anderen spielen sozusagen mit. So ist es bei VAN CANTO: Alle Projekte laufen in einer Hand zusammen. Das hat natürlich wahnsinnige Vorteile für die Ökonomie des Ganzen, weil wenig abgesprochen werden muss, sondern Dinge werden eben einfach vorgegeben. Das kann sehr, sehr effizient funktionieren. Dazu müssen die Leute aber auch gemacht sein. LOGAR’S DIARY ist da genau der Gegenentwurf: eine komplett gleichberechtigte Struktur. Da gab es immer sehr starke Charaktere, die gerne ihren eigenen Senf reinbringen wollten, auf instrumentaler oder konzeptioneller Ebene. Im Endeffekt war das vielleicht das Problem, dass man alles gemeinschaftlich ins Rollen bringen wollte und diese Koordination, alle Impulse und Vorstellungen unterbringen zu wollen, uns zerrieben hat.
Bei VAN CANTO kommt ja hinzu, dass ihr zum Teil an ganz unterschiedlichen Orten lebt. Bei LOGAR’S DIARY hingegen wart ihr ja bislang sehr dicht aufeinander. Vor- oder Nachteil?
Genau, es waren immer Leute, die in Berlin gewohnt haben. Dadurch war das Grundgefühl einfach ganz anders. Wir konnten uns halt jederzeit besuchen und wir hatten einen gemeinsamen Proberaum, in dem wir auch Partys gemacht haben, ganz tolle Events. Dadurch hatte es was Kontinuierliches, was Freundschaftlicheres, aber es war dadurch vielleicht auch weniger professionell. Im Proberaum schreibt man ja in der Regel keine Songs. Vielleicht haben wir uns durch die vielen Treffen ein bisschen die Zeit geraubt, um das Songwriting voranzutreiben.
Kannst du dich darauf festlegen, welches Konzept dir persönlich lieber ist?
Eigentlich nicht. Sonst hätte ich wahrscheinlich auch nicht beides gemacht. Ich finde es super, mich mit Musikern zu treffen und gemeinsam die Musik zu leben – völlig unabhängig davon, ob dabei etwas Publikumswirksames herauskommt. Aber es ist natürlich auch richtig toll, auf der Bühne zu stehen und Feedback von Leuten zu bekommen.
Welche Herausforderungen siehst du neben dem Bandgefüge sonst noch für kleinere Bands?
Da ist natürlich immer den Spagat zwischen der Selbstverwirklichung auf der einen Seite und äußeren Zwängen auf der anderen. Jede Band, die auftreten will, muss auch antizipieren, was beim Publikum gut ankommt. Und entweder man kriegt das gut zusammen mit den eigenen Interessen und ist da flexibel oder man hat halt wirklich ein ganz eigenes Konzept. In einer Band kannst du immer Leute haben, die sagen, „Wir müssen solche Songs machen wie die und die, weil es irgendwie gerade eine Welle gibt“. Oder eben Kommentare von außen – bei LOGAR’S DIARY habe ich oft gehört, das sei alles viel zu komplex. Was sich gut verkauft, sind einfache Strukturen. Dabei ist das ja gar nicht wahnsinnig vertrackt, was wir da machen.
Und bei VAN CANTO?
Da hat sich die Band ja super in eine Lücke platziert. Da ist ja gerade das Konzept, nicht nach irgendeinem Trend zu gucken, sondern wirklich etwas komplett Eigenes zu machen. Natürlich fühlen wir uns damit bei jeder Veranstaltung wie die Exoten, und viele Leute nehmen es auch nicht richtig ernst. Aber das gehört auch dazu ...
Hast du in deiner aktiven Zeit als Musiker Veränderungen festgestellt, was Herausforderungen für Bands angeht?
Auf jeden Fall! Manche Hürden sind gestiegen und andere gesunken. Zum Beispiel ist insgesamt die Konkurrenz viel größer geworden. Das macht es schwieriger, auf größeren Bühnen spielen zu können, weil es einfach deutlich mehr Bands innerhalb der einzelnen Genres gibt. Aber gleichzeitig sind zum Beispiel die technischen Schwellen gesunken. Heutzutage ist es sehr viel leichter, zu Hause eine Aufnahme zu produzieren, die sich gut anhört. Die Software funktioniert vernünftig, die Hardware ist nicht mehr so teuer, es ist deutlich niedrigschwelliger als vor 20 Jahren. Man muss nicht in ein professionelles Aufnahmestudio gehen, um was Vorzeigbares hinzubekommen. Ich weiß aber auch nicht, was passieren würde, wenn ich jetzt heute neu mit dem Ganzen anfangen würde.
Hagen wird bei VAN CANTO von drei weiteren Sängern, einer Sängerin und einem Schlagzeuger (der ebenfalls singt) unterstützt. Metal a cappella – ein Nischenkonzept, das aufgeht. (Foto: Anne)
Ich habe hier noch ein paar unsortierte Einzelaspekte und würde von dir gerne wissen, wie wichtig für den „Erfolg“ einer Band sie deiner Meinung (oder Erfahrung) nach sind.
1. Musikalische Qualität (wie auch immer die zu messen wäre)?
Das ist definitiv nichts Absolutes, sondern extreme Auslegungssache. Man könnte sagen, Qualität hat was mit Spielfähigkeit der individuellen Bandmitglieder zu tun, aber eine gute Komposition macht mindestens genauso viel aus. Man könnte sogar die Reaktion des Publikums als Maßstab nehmen – auch wenn ich das nicht so sehe. Aber es gibt Musiker, die setzen sich durch, weil sie knallhart danach gehen, was ein bestimmtes Publikum anspricht. Und ein wichtiger Aspekt ist vielleicht noch die Produktion – wie gut ist die Technik und das Know-how der aufnehmenden Person – das macht auch einen entscheidenden Faktor für eine erfolgreiche Veröffentlichung aus.
2. Teamgeist?
Ja, super wichtig. Aber man muss natürlich differenzieren zwischen den verschiedenen Bandstrukturen, über die wir gesprochen haben – davon hängt ab, was für eine Art von Team es ist. Bei dem Mastermind-Konzept kommt es darauf an, dass die anderen sich der Sache unterordnen können, und bei demokratischen Projekten muss man gemeinschaftlich Lösungen finden.
3. Klare Aufgabenverteilung innerhalb der Band?
Genauso. Je mehr man pluralistisch, demokratisch funktionieren will, desto wichtiger ist genau das. Eigentlich müssen dann ganz klar Rollen verteilt und eingehalten werden. Und die Disziplin der Leute muss sich genau darauf ausrichten.
4. Finanzielle Eigenleistung?
Zumindest am Anfang einer Bandkarriere muss man unbedingt in Kauf nehmen können, dass Kosten entstehen. Aber man kann natürlich in fast jedem Sektor gucken, wie weit man das zulassen will. Wir hatten immer relativ harte Grenzen, wie viel wir uns die Produktion kosten lassen wollten, und wir hätten zum Beispiel keine Gigs gespielt, bei denen wir stark draufgezahlt hätten.
Kurzer Nebenaspekt, was hältst du von Crowdfunding?
Dafür gibt es tolle, positive Beispiele, wenn eben schon eine überzeugte Crowd vorhanden ist. Eigentlich eine total coole Sache, weil man die Fans dann in den Entstehungsprozess mit einbezieht.
5. Eine gute Social-Media-Präsenz?
Heutzutage wahrscheinlich sehr, sehr wichtig. Vielleicht nicht in jedem Genre gleichermaßen, aber ja, man muss auf diesen Kanälen aktiv und präsent sein. Aber man braucht mindestens eine Person in der Band, die das gerne macht, oder muss extern jemanden engagieren. Ich hätte da überhaupt keinen Spaß dran. Das war aber auch schon früher, vor Social Media, so. Man brauchte immer jemanden, der gerne rausrennt, den Leuten ein Ohr abkaut, Klinken putzt und alle Namen kennt.
Wie passend: 6. Branchenkontakte?
Klar, eine Band schafft es nicht ganz alleine nach ganz oben. Und spätestens, wenn es dann etwas größer wird, brauchst du professionelle Unterstützung, sowohl bei Plattenveröffentlichungen als auch auf der Live-Ebene. Manchmal ergibt‘s sich von selbst: Man spielt irgendwo, lernt neue Leute kennen – wann immer man den nächsten Schritt macht, kommen wieder neue Kontakte dazu. Das heißt, es kann schon sein, dass man da gar nicht viel Arbeit reinstecken muss. Aber sonst muss man schon aktiv Kontakte knüpfen.
7. Regelmäßige Veröffentlichungen?
Auch wichtig. Es gibt natürlich Ausnahmen – manchmal haben Bands so starke Veröffentlichungen, dass die tatsächlich ein Jahrzehnt halten oder so. Aber wahrscheinlich ist es gerade im Anfangsbereich so, dass man kleine Impulse setzt, und wenn man da nicht drauf aufsattelt, dann fängt man praktisch wieder bei Null an. Das ist schon ein Problem.
8. Regelmäßige Live-Auftritte?
Wahrscheinlich in der normalen Bandentwicklung unerlässlich. Du kriegst ja eine Fanbase typischerweise dadurch, dass die Leute dich live als Vorband sehen und sich dann nochmal im Streaming oder auf Platte anhören.
Und eher Tour oder eher Festivals?
Eigentlich alles. Egal ob einzelne Club-Gigs, Tour als Vorband oder Festival-Auftritte – das hatte bei uns immer eine Resonanz. Die Frage ist eher, wie viele Leute da sind, und wie offen die gegenüber neuen Bands sind. Aber letztendlich geht es um jeden einzelnen Gig.
9. Musikvideos?
Da glaube ich, dass in erster Linie die reine Verfügbarkeit ein wichtiger Baustein ist. Die Musik sollte auf Videoportalen zu finden sein. Die Qualität ist dabei gar nicht so wichtig. Lustigerweise werden ja manchmal Low-Budget-Produktionen oder ganz simple Lyric-Videos total gehyped.
10. Individualität?
Irgendein Alleinstellungsmerkmal ist natürlich total wichtig. Das ist wahrscheinlich für den Erfolg stark mitentscheidend, dass man sich nicht erst lang mit der Band befassen muss, um das Individuelle zu sehen. Aber auf welcher Ebene das jetzt ist, da würde ich mich gar nicht festlegen. Ob es in etwas Äußerem steckt, wie Kostümierungen, oder ob man das eher mit der musikalischen Ausrichtung erreicht.
Gibt es einen noch nicht genannten Punkt, der aber darüber hinaus sehr wichtig ist?
Natürlich das Feuer für die Sache! – Und das ist dann wieder zwiespältig: Wenn du strategisch denkst, kann es passieren, dass du dadurch eigentlich gar nicht das machst, was du originär in dir hättest. Aber dann wiederum gibt es Leute, die so heiß darauf sind, eine Band erfolgreich nach vorne zu bringen, dass das allein auch ganz viel Feuer entfacht (lacht).
Hier findet ihr ein Bandportrait über Hagens Projekt LOGAR'S DIARY.