The Dillinger Escape Plan - Miss Machine Tipp

dillinger escape plan miss machine

Label/Vertrieb: Relapse Records
Bewertung: gnadenlos gut

http://www.dillingerescapeplan.com/

Fünf Jahre sind vergangen, seit The Dillinger Escape Plan uns mit „Calculating Infinity" ein reguläres Album musikalischen Wahnsinns beschert haben. Zwischendurch gab sich Mike Patton die Ehre und fungierte auf dem wundervoll weirden Mini-Album „Irony Is A Dead Scene" als Sänger. Seit zwei Jahren haben wir von den Fünf aus New Jersey also nichts Neues mehr gehört. „Miss Machine" (Relapse Records) beendet diesen Zustand – und um es gleich vorweg zu nehmen: Die Band, die sich nach dem Bankräuber und Cop-Killer John Dillinger benennt, schlägt neue Wege ein und bleibt dennoch ihren Wurzeln treu.

Klingt der erste Song „Panasonic Youth" noch eher typisch, enttarnt „Sunshine The Werewolf" bereits die neue Herangehensweise. Zwei Minuten lang möchte man glauben, es habe sich nichts geändert: Aneinandergeschraubte Noise-Riff-Kaskaden, hässliche Breaks, ultraaggressives Geschrei und allgemeines Chaos beherrschen das Bild. Doch nach anderthalb Minuten folgt der Wandel, der Himmel bricht auf: Drumming laid-back, die Gitarren spielen nahezu zarte Melodien, dann die Steigerung durch gewohnt harschen Gesang, die Riffs dazu bedrohlich schwer und drückend. Kein Chaos, dafür düstere Klarheit mit leichten, ganz leichten Dissonanzen, die im letzten Teil des Songs in ein verzerrtes Vorfinale ausarten, um nach einem Part voller Breaks erneut aufzutrumpfen und abrupt zum Erliegen zu kommen. Wow, das nenne ich titelgerecht und einfallsreich!

„Highway Robbery" startet verfrickelt und eruptiv, ein wenig später sticht der Refrain wiederum durch seine melodische Eingängigkeit hervor, die Saiten dürfen ausklingen, gegen Ende zieht das Tempo noch einmal an.

„Van Damsel" beginnt gewohnt noisig, steigert sich jedoch in ein dickes Riff, das vom Schlagzeug anfangs bedächtig, später wieder schnell begleitet wird. Das Ende klingt so, als würde man einem Kraftwerk den Saft abdrehen.

Wunderbar dazu passend reiht sich „Phone Home" ein, ein Song, mit dem Sänger Greg Puciato eindruckvoll zeigt, dass in ihm ein kleiner Trent Reznor steckt. Der Track erinnert gesanglich und durch seinen mit Samples und Soundfetzten gespickten Industrialsound insgesamt so stark an Nine Inch Nails, dass ich ihn zweifelsfrei für einen ihrer Songs gehalten hätte. Oder zumindest angenommen hätte, Trent hätte hierbei seine Finger im Spiel gehabt. Kein Gefrickel, keine kakophonischen Elemente – und dennoch Dillinger. Der Track soll nicht die letzte Überraschung auf diesem Album bleiben.

Schon „We Are The Storm" offenbart einen extrem ruhigen Zwischenteil, der von Puciatos klarem Gesang getragen wird. In der Tat, der Mann kann singen und tut es zum Glück auch! Eine Pause später, jedoch immer noch im selben Song, bilden Geschrei und Dissonanz den Ausklang. Alter Falter ...

„Crutch Field Tongs" besteht zu hundert Prozent aus Geknarze und flirrenden Frequenzen und bildet so eine Art Brücke zwischen dem ersten und dem zweiten Teil von „Miss Machine".

„Setting Fire To Sleeping Giants" spannt den Bogen zurück zur Zusammenarbeit mit Patton und zeigt gesanglich wie auch musikalisch ganz deutliche Züge seiner Combo Faith No More. Der Mittelteil besteht aus schwoofigem Free-Jazz, danach geht es im typischen Faith No More-Stakkato-Takt weiter, um den treibenden Song mit einem wundervoll dreckigen Endpart aufzulösen. Großes Kino, diese Arrangements hintereinander zu packen, und es funktioniert hervorragend.

„Baby's First Coffin" trägt wiederum die typischen Trademarks von Dillinger Escape Plan, doch auch hier gibt es Passagen, die sehr nach Industrial klingen. Puciatos Organ zeigt keinerlei Schwächen, agiert ungewohnt vielseitig, transportiert Spannung, Stimmung sowie Melodie hervorragend und offenbart sich im letzten, anfangs sehr poppigen Songdrittel regelrecht einfühlsam, klar und sanft. Das Finale trumpft wiederum aggressiv und laut auf – das nenne ich Spannungsbogen.

„Unretrofied" ist der ungewöhnlichste Song des Albums, denn er könnte problemlos von einer Nu-Metal-Combo stammen. Wenn Dillinger einen radiotauglichen und absolut mainstreamkompatiblen Track geschrieben haben, dann diesen. Leichtes Knarzen und Pfeifen im Hintergrund erinnert jedoch daran, dass hier keine 0815-Combo ihr Werk versieht, und auch ein kurzer disharmonischer Mittelteil verweist auf den Absender. Soundtrackartig breitet sich ein letzter Zwischenpart aus, der den rockig-schönen aber ganz und gar unerwarteten Track beendet.

„The Perfect Design" bildet den Abschluss dieses phantastischen Galopps quer durchs metallische Unterholz: Disharmonien und Harmonien gehen Hand in Hand, Noisecore vermischt sich mit Popappeal, klare Riffs dominieren Saitenklangfragmente und letzten Endes trägt uns ein Klangbrei aus dem Album, den man sich bildlich wie eine Spirale ins Nichts vorstellen kann.

Augen wieder öffnen, durchatmen ... „Miss Machine" ist das beste Dillinger-Album bis dato. Ich kenne kaum eine Band, die wie dieses Quintett Neues kreiert, experimentiert und schlussendlich dermaßen überzeugt – großes Kino.