Arjen Anthony Lucassen - Lost In The New Real (Doppel-CD)

arjen lucassen lost in the new real

Stil (Spielzeit): im Kern Progressive Rock mit Pop, Folk & Ambient (47:00 + 43:20)
Label/Vertrieb: InsideOut/EMI (20.04.2012)
Bewertung: 7/10

arjenlucassen.com

Was haben AYREON, STAR ONE, GUILT MACHINE, STREAM OF PASSION und AMBEON gemeinsam? Genau: Ihren musikalischen Mastermind, einen gewissen ARJEN ANTHONY LUCASSEN, Multiinstrumentalist, Sänger und Komponist aus Holland. Mit seinem dritten Studioalbum nach "Pools Of Sorrow, Waves Of Joy" und der Cover-CD "Strange Hobby" (1994 bzw. 1996, beide längst vergriffen) wollte eine der wichtigsten Gestalten aus der progressiven Rock- und Metalszene mal wieder etwas anderes machen. Heraus gekommen ist eine Doppel-CD, die – nun ja – nach Lucassen klingt. Also nach AYREON. Und STREAM OF PASSION. Und GUILT MACHINE. Und so weiter.

Vermutlich kann der blonde Zwei Meter-Riese gar nicht anders, als seinem auf zig hochklassigen Alben etablierten Stil treu zu bleiben. Und ein paar Unterschiede zu seinen zahlreichen Projekten sind auf "Lost In The New Real" ja auch auszumachen. Trotzdem erkennt man sofort, wer hinter diesem auf zwei CDs verteilten Konzeptalbum steckt. Das übrigens nicht nur musikalisch, sondern auch textlich. Die Story: Ein gewisser Mr. L (wer das bloß sein kann...) hat sich im 21. Jahrhundert einfrieren lassen und wird in einer fernen Zukunft wieder aufgetaut. Betreut von seinem seelischen Beistand (gesprochen von Schauspieler Rutger Hauser) versucht L, in einer extrem veränderten Welt, in der die Grenzen der Realität verschwimmen, seinen Platz zu finden. Eine typische Lucassen-Geschichte also, die hauptsächlich auf der ersten CD vertont wird, während der zweite Silberling neben Songs, die lose mit dem Konzept zu tun haben, auch passende Coverversionen enthält.

Das eigentliche Album steht in der Tradition der bekannten Projekte, bietet mit einer stellenweise wilden Mischung aus Progressive Rock, viel Pop, Folk und Ambient auch nichts wirklich Neues, ist aber erdiger, luftiger und zahmer als z.B. AYREON. Größter Unterschied: Weder Gastsänger noch eine Schar an namhaften Gastmusikern ist auf "Lost In The New Real" zu hören. Einzig die Schlagzeuger Ed Warby und Rob Snijders sind einem wohlbekannt, von Streichern, Flöten und ähnlichem abgesehen hat Lucassen alles selbst eingesungen und eingespielt. Bisher waren seine Vocals nur ab und an zu hören, als Sänger eines kompletten Albums macht der Hüne eine sehr gute Figur. Außer im dunklen "Parental Procreation Permit" und "Yellowstone Memorial Day" haben richtig harte Gitarren weitestgehend Pause, ein augenzwinkernder Song wie "Pink Beatles In A Purple Zeppelin" unterstreicht mit deutlichen BEATLES-Anleihen den hohen Pop-Aspekt des Albums.

Genau diese humoristische Seite ist in der eigentlich düsteren Geschichte fehl am Platze – ein Problem, auf das wir später noch zu sprechen kommen. Der schöne Einstieg mit "The New Real" und das typische zehnminütige "Lost In The New Real", in dem Lucassen alle Elemente seines Klanguniversums miteinander verbindet, tönen besonders gut, der Großteil der anderen Songs ist zumindest gelungen. Eine Neuerfindung ist das Konzeptalbum aber beileibe nicht. Trotz leichter stilistischer Unterschiede erkennt man auf der CD immer, dass es sich um ARJEN ANTHONY LUCASSEN handelt. Gut, vielschichtig und melodisch, aber durch krasse Stilwechsel von Song zu Song und zu viel "gut, aber auch schon zig mal gehört" statt "wow, richtig geil!" auch zerfahren und nicht so überzeugend wie beispielsweise die AYREON-Outputs.

Überraschenderweise ist die zweite CD gelungener, obwohl sie eine Mischung aus nicht hunertprozentig ins Konzept passenden Outtakes (böse Zungen würden sie "Ausschussware" nennen) und Coverversionen enthält. "Our Imperfect Race" oder "The Space Hotel" machen Laune, "So Is There No God?"und "The Social Recluse" hätten auf dem eigentlichen Konzeptalbum sogar zu den Höhepunkten gehört. Auch die thematisch passenden Coversongs, allen voran das geniale "Veteran Of Psychich Wars" (BLUE ÖYSTER CULT) und FLOYDs "Welcome To The Machine", dem Lucassen mit dem Wechsel aus sphärischen, ruhigen Passagen und kalten Industrialgitarren einen besonders maschinellen Charakter verleiht, hätten perfekt auf das Konzeptalbum gepasst. Selbst "The Battle Of Evermore" (LED ZEPPELIN) verleiht Lucassen einen eigenständigen Klang, ohne sich zu weit vom Original wegzubewegen. Die weiblichen Backingvocals sind typisch für seinen Stil und machen die Coverversionen zu eigenständigen Songs, die nicht einfach nur nachgespielt wurden. Abgesehen von ein, zwei Durchhängern (beispielsweise dem unhörbaren ZAPPA-Cover "I'm The Slime") macht die zweite Scheibe sogar mehr Spaß als das eigentliche Konzeptalbum.

"Lost In The New Real" krankt an einer seltsamen Verteilung der Songs. Ohne die humoristische und leichte, unpassende Komponente in Songs wie "Pink Beatles In A Purple Zeppelin" (das gut ist, als Bonustrack aber deutlich mehr Sinn gemacht hätte) und stattdessen mit der kühlen, industriellen Atmosphäre eines "Welcome To The Machine" wäre das Konzeptalbum sehr viel reizvoller ausgefallen. Gerade die Verbindung von eigenen Songs und Interpretationen anderer Künstler finde ich sehr ansprechend. Doch ich muss dem Tenor anderer Rezensenten recht geben: Auf ein Album komprimiert oder durch ein stärkeres Aussieben wäre "Lost In The New Real" richtig stark geworden. In vorliegender Form ist das (exzellent eingespielte und produzierte) Doppelalbum aber nur gut. Und das ist gemessen an den ansonsten hochkarätigen Outputs des Holländers schon eine kleine Enttäuschung.

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