"The Forest Seasons" ist komplexer als jedes andere WINTERSUN-Album
Konzeptionell orientiert sich das dritte Studioalbum der zum Quintett angewachsenen Band an Vivaldis "Vier Jahreszeiten". In vier Songs, jeweils mit einer Spielzeit zwischen 12 und 15 Minuten, begeben sich WINTERSUN laut Platteninfo auf "eine musikalische Reise durch einen mystischen Wald" und vertonen auf ihre eigene Weise Frühling, Sommer, Herbst und Winter. "The Forest Seasons" steht musikalisch zwischen "Wintersun" und "Time I", wobei der Bombastfaktor trotz Chören und Orchestrierungen niemals so überbordend wird wie auf dem zweiten Album.
Die vier neuen Nummern sind trotz harmonischer Passagen und eingängiger Riffs, die schon beim ersten Hören Ausrufezeichen setzen, komplexer als alles, was WINTERSUN bislang abgeliefert haben."The Forest Seasons" will entdeckt werden – nicht zwei oder drei Mal, sondern wesentlich häufiger. Wer sich beharrlich auf das vor zahlreichen Details nur so strotzende Material einlässt, wird mit wunderbaren Fixpunkten belohnt, die sich unwiederbringlich ins Gehör fräsen. Um auch nur ansatzweise alle Feinheiten aufnehmen zu können, empfiehlt es sich, das Album vorzugsweise unterm Kopfhörer zu entdecken. Neben altbekannten Trademarks lassen WINTERSUN neue Facetten wie Black Metal-Ausflüge erklingen.
Frühling und Sommer: Episch, erhaben, majestätisch
"Awaken From The Dark Slumber (Spring)" wird mit sanften Klängen zu Waldgeräuschen eingeläutet. Zu Beginn steht eindeutig Jaris Gekeife im Mittelpunkt, während im Hintergrund verspielte Gitarren wirbeln. Mit den ersten chaotischen Minuten assoziiert man Aufbruchstimmung und Ursprünglichkeit, der Wald erwacht aus dem Winterschlaf. Erst nach sechs Minuten haben WINTERSUN ihre Bühne mit allen bekannten und lieb gewonnenen Band-Trademarks für den zweiten Songpart aufgebaut. Dann treffen melodische Riffs und Gitarrenharmonien, folkige Passagen, satte Orchestrierungen, Tempowechsel, Growls und leidenschaftlich cleane Vocals, erhabene Melodien und hymnische Chöre aufeinander. Spätestens, wenn mehrere Minuten lang die majestätischen Parts in verschiedenen Variationen inkl. einer Art Chorus durchexerziert werden, sollte sich jeder Anhänger der Finnen heimisch fühlen.
"The Forest That Weeps (Summer)" führt recht früh einen Chorus ein, der sich mehrmals wiederholen wird. Spätestens ab der Hälfte der Spielzeit besticht der anfangs schwer groovende Song mit der ergreifenden Epik, für die wir die Finnen so lieben. Das höchst eingängige, treibende Gitarrenriff, das mehre Minuten lang variiert wird, ist ein Geniestreich und einer der Höhepunkt der gesamten Scheibe.
Herbst und Winter: Brachial, düster, melancholisch
Das in mehrere Parts aufgeteilte "Eternal Darkness (Autumn)" beginnt dissonant und düster wie ein nebliger Herbstmorgen. Rabenschwarze Riffs und Jaris fiese Growls vor einem Blastbeat-Gewitter klingen schwarzmetallischer als alles, was WINTERSUN bislang abgeliefert haben. Auch hier stets präsent: Erhabene Chöre und epische Orchestrierungen. Erst nach sechs Minuten wird das Tempo gedrosselt, die melancholischen, gefühlvollen Gitarrenleads sorgen für eine dicke Gänsehaut. Weitere Tempowechsel und eine Steigerung der orchestralen Parts münden vor einem erneuten Blastbeat-Wirbelsturm in einem symphonischen Black Metal-Abgang. Mit seiner Vielschichtigkeit, filigranen Soli und Reminiszenzen an DIMMU BORGIR und DISSECTION ist die dritte die untypischste und zugleich beeindruckendste der vier Jahreszeiten.
Deutlich getragener und schwermütiger geht es im Abschluss "Loneliness (Winter)" zu, der eine große musikalische Nähe zu "Time I" zeigt . Hier dominieren instrumentale Passagen mit der WINTERSUN-eigenen Dramatik und Theatralik. Majestätische Melodien und die bislang wohl besten Klargesänge von Jari machen die natürliche Schönheit eines kalt-klaren, schneebedeckten Wintertages akustisch erfahrbar. Ein perfekter Abschluss für eine 54-minütige, komplexe musikalische Reise.
Vielschichtiger, ehrlich produzierter Sound
Ob der je nach Sichtweise behämmert-exzentrische oder visionäre Jari Mäenpää wirklich nur in seinem eigenen, noch zu bauenden Studio den perfekten Sound für ein WINTERSUN-Album kreieren kann, sei bei den Möglichkeiten, die ein großes Label wie Nuclear Blast mit Verbindungen zu zig exzellenten Studios hat, dahin gestellt. "Time I" ertrank nicht nur musikalisch, auch produktionstechnisch geradezu im Pomp - eine Eigenheit, die zumindest für mich zugleich einen großen Reiz an der Veröffentlichung ausmachte.
Der Klang des von der Band selbst produzierten dritten Albums ist da deutlich reduzierter, ehrlicher und bodenständiger. Die knackigen Drums und der pumpende Bass sind im Mix sehr, manch einem Fan vielleicht zu präsent, die Vocals stehen ebenfalls recht weit im Vordergrund und verbannen die wahnsinnig gute Gitarrenarbeit stellenweise eine Spur zu weit in den Hintergrund. Das kann man aber nicht verallgemeinern, denn Insbesondere unterm Kopfhörer fällt auf, dass die Mix-Verhältnisse je nach Song und Kontext variieren, was den Genuss noch spannender macht. Der Sound ist insgesamt wesentlich organischer und ursprünglicher als auf den ersten beiden Alben und wirkt definitiv nicht wie ein Kompromiss.
Ist "The Forest Seasons" nur ein Lückenfüller?
"The Forest Seasons" wurde von einer sehr erfolgreichen Crowdfunding-Kampagne begleitet. Ziel von Bandleader Jari Mäenpää ist nach wie vor der Bau eines eigenen Studios, um "Time II" und zukünftige Alben seinen extrem perfektionistischen Ansprüchen genügend umsetzen zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen noch weitere Kampagnen folgen. Kritische Stimmen können behaupten, dass Jari die Alben bis dahin - also auch "The Forest Seasons" - als Lückenfüller, als Mittel zum Zweck sieht und nebenbei abwickelt, bis das WINTERSUN-Studio gebaut werden kann. Ich kann diese Position bedingt nachvollziehen - Jari hat nun mal einen Hang zur Selbstdarstellung, und seine Facebook-Postings zur Band-Entwicklung und den Problemen mit Nuclear Blast halte ich für nicht besonders klug. Alles andere als "Time II" kann auf diese Weise schnell mit einer Aura des Unfertigen umgeben werden.
Letztendlich geht es aber um eine entscheidende Frage: Klingt das Material auf "The Forest Seasons" nun gut oder nicht? Meine Antwort: Ja, sogar extrem gut. Vielleicht einen Hauch weniger bahnbrechend als "Wintersun" oder das stark polarisierende "Time I". Aber es ist definitiv kein halbgarer Lückenfüller, sondern ein weiteres WINTERSUN-Werk mit neuem Konzept, mit dem sich die Band extrem viel Mühe gegeben und sich hörbar weiter entwickelt hat (man achte nur auf die starken Vocals). Vielleicht sind die Keyboard-Samples nicht zu 100 % perfekt, die Blastbeats ein wenig uninspiriert. Doch das Feeling, diese Erhabenheit, Atmosphäre und Dichte an hochmelodischen Passagen, das leise gemurmelte "Wow", wenn die letzten Töne von "Loneliness" verklingen - das ist zu 100 % WINTERSUN.
"The Forest Seasons" ist gewaltig, gewagt und komplex. Ihr findet darauf kein in sich geschlossenes, direkt nachvollziehbares Epos wie "Sons Of Winter And Stars". Die Produktion ist Geschmackssache, die gewaltigen Harmonien nicht sofort erkennbar, der Anspruch extrem hoch. Dieses Album braucht Zeit. Wenn ihr sie euch nehmt, belohnen euch WINTERSUN mit einem stimmungsvollen Geniestreich in der Schnittmenge von Melodic Death, Black und Symphonic Metal.
Trackliste
1. Awaken from the Dark Slumber (Spring)
Part I: The Dark Slumber
Part II: The Awakening
2. The Forest That Weeps (Summer)
3. Eternal Darkness (Autumn)
Part I: Haunting Darkness
Part II: The Call of the Dark Dream
Part III: Beyond the Infinite Universe
Part IV: Death
4. Loneliness (Winter)
Band
Jari Mäenpää - vocals, studio guitars & programming
Kai Hahto - drums
Jukka Koskinen - bass
Teemu Mäntysaari - guitars
Asim Searah - guitar