Während viele Bands im Laufe ihrer Karriere die Härte ihrer Anfangstage zumindest zeitweise völlig in den Hintergrund rücken (ANATHEMA, OPETH, THE GATHERING, PARADISE LOST), scheint es bei LACUNA COIL in die entgegengesetzte Richtung zu gehen: "Delirium", das achte Studioalbum der von einigen Besetzungswechseln durchgerüttelten Italiener, ist ein richtiger Brecher, den auch nach den modernen Vorgänger-Alben wohl die wenigsten Fans erwartet hätten – und der gerade deshalb so logisch erscheint.
Im Grunde führt das neue Opus die Linie der Vorgänger "Shadow Life" und "Broken Crown Halo" fort, legt härtetechnisch aber eine ordentliche Schippe drauf. Mit "The House Of Shame" steigen LACUNA COIL extrem hart in "Delirium" ein. Andrea Ferro growlt beinahe, Cristina Scabbia ist mit elfenhaften Vocals nur im Refrain zu hören. Der Bass scheppert, die Drums legen sich mächtig ins Zeug, die Gitarren riffen heftig. Der Opener plättet richtig und hinterlässt ein großes Ausrufezeichen.
Mit "Broken Things" und dem epischen Titeltrack wird aber schnell klar: Trotz deutlich angezogener Härte sind das immer noch LACUNA COIL, mit den für die Italiener typischen Melodien und Harmonien. Selbst Songs wie "Blood, Tears, Dust", in dem Ferro growlend den angepissten Fronter gibt, beinhalten dank Scabbias wundervoller Stimme sehr melodische Kontrastpunkte. Und wenn die Songs dezent mit Keyboards unterlegt sind und diese einmalige LACUNA COIL-Stimmung erzeugen – wie in dem melancholischen "My Demons" mit seinem Chorus zum Dahinschmelzen, "Ghost In The Mist" oder dem atmosphärisch sehr dichten "Downfall" mit einem unglaublich geilen Gitarrensolo von Myles Kennedy (ALTER BRIDGE) –, dann ist die Welt absolut in Ordnung.
Für Abwechslung sorgen LACUNA COIL neben der Verteilung der Vocals (mal singt Cristina den Refrain und Andrea die Strophen, mal anders herum) durch eine gute Mischung aus flotten und Midtempo-Nummern, gelungenen Riffs und Soli (die alle bemerkenswert gut von Bassist Marco Coti Zelati eingespielt wurden, da kurz vor Beginn der Aufnahmen mit Marco Emanuele Biazzi bereits das dritte langjährige Bandmitglied innerhalb von zwei Jahren das Handtuch schmiss), überraschenden Melodien und Kontrapunkten aus Härte und Harmonie.
Ich rate übrigens zum Kauf der Deluxe Edition mit drei Bonustracks, von denen mindestens "Live To Tell" auf das reguläre Album gehört und direkt einen der Höhepunkte dargestellt hätte. In dieser mächtigen Midtempo-Nummer hat Andrea Ferro Pause, so dass Cristina Scabbia alleine für die Vocals verantwortlich ist und an die frühen Bandtage erinnert. Auch die anderen beiden Nummern sind durchaus hörenswert.
Wer "In A Reverie" oder "Comalies" hinterher trauert, muss schon lange stark sein und sollte sich lieber weiterhin auf die ersten drei Scheiben von LACUNA COIL konzentrieren. Wer die härtere Gangart begrüßt und sich auch vor (seltenen) Death Metal-Ausflügen von Andrea Ferro nicht beirren lässt, könnte mit "Delirium" sehr glücklich werden.
Chrischi
Stile: Metal und (Hard) Rock in fast allen Facetten
Bands: Metallica, Pearl Jam, Dream Theater, Iron Maiden, Nightwish ...