Nightwish - Human. :||: Nature. (2CD) Tipp

Nightwish - Human. :||: Nature. (2CD)
    Symphonic Metal

    Label: Nuclear Blast
    VÖ: 10.04.2020
    Bewertung:9/10

    NIGHTWISH im Web


Nachdem Tuomas Holopainen "Endless Forms Most Beautiful" (2015) zu Ende komponiert hatte, fühlte er sich leer und ideenlos. Erst nach dem sanften AURI-Debüt sprudelte seine Inspirationsquelle wieder – so stark, dass es nun ein Doppelalbum mit losem Konzept über den Mensch und die Natur braucht, um alle Ideen auszubreiten. "Human. :||: Nature." zeigt NIGHTWISH anno 2020 mit neun regulären Tracks und einer achtteiligen Suite einmal mehr an der Speerspitze des gesamten Symphonic-Metal-Genres.

Nightwish 2020 Band

NIGHTWISH 2020: Das Maß aller Dinge im Symphonic Metal (Photo Credit: Tina Korhonen)

Never change a winning team

Ihren ganz eigenen Sound behalten die Finnen auch auf Album Nummer neun bei. Im Vergleich zum direkten Vorgänger ist "Human. :||: Nature." weniger verkopft, dafür ein gutes Stück härter und eine ganze eine Ecke folkiger ausgefallen. In vielen Songs erinnert die Stimmung an "Century Child", "Dark Passion Play" und "Imaginaerum". Erneut dabei sind Pip Williams und das London Session Orchestra, produziert haben neben Holopainen selbst wieder Tero Kinnunen und Mikko Karmila.

Abgesehen von Kai Hahtos erstem offiziellen Studio-Einsatz als permanenter Ersatz von Jukka Nevalainen (wobei er diesen schon seit 2014 am Drumkit vertritt) also alles beim alten? Irgendwie schon. NIGHTWISH erfinden sich nicht neu, sie betreiben Feintuning. Bis zur Perfektion.

Die Stakkato-Riffs erklingen vermehrt und sind heftiger ausgefallen, im Gegenzug verzichtet Emppu Vuorinen großteils auf prägnante Soli und setzt sich selten, dann aber einrucksvoll in Szene. Marco Hietalas Bass brummelt dunkel vor sich hin, Kai Hahto verdrischt sein Drumkit nach allen Regeln der Kunst, Tuomas Holopainen hält das symphonische Zepter fest in der Hand, Troy Donockley setzt mit seinem Arsenal an ungewöhnlichen Instrumenten wie Uilleann Pipes und Bouzouki Akzente.

Und Floor Jansen? Singt. Engelsgleich, düster, ausgefallen, bedrohlich, inbrünstig, einschmeichelnd, poppig, operesk. Sie singt einfach alles. Und das auf einem so extrem hohen Niveau, dass man einfach vor ihr auf die Knie gehen muss. Die Niederländerin beweist erneut eindrucksvoll, dass sie die Vorzüge ihrer Vorgängerinnen mit links ausspielt, aber eben nicht nur die eine oder andere Klangfarbe beherrscht, sondern mit ihrer Variabilität die perfekte Sängerin für NIGHTWISH ist und bleibt.

"Human": NIGHTWISH auf dem Höhepunkt ihres Schaffens

Holopainen verstand "Endless Forms Most Beautiful" als bisher bestes NIGHTWISH-Album. Ob er seine Meinung nach dem Release von "Human. :||: Nature." ändern wird? Gründe genug gibt es jedenfalls.

"Human" ist Symphonic Metal par excellence. Im Intro wird die Geschichte der Musik im Eilverfahren reproduziert, bevor nach drei Minuten Floor Jansen erklingt. Emppu Vuorinen liefert eines seiner auf diesem Album seltenen Soli ab. Ein toller, melodischer Chorus rundet den traumhaft bombastischen Einstieg ab.

"Noise" geht ordentlich nach vorne und steht mit harschen Riffs in der Tradition von Songs wie "Storytime" oder "Bye Bye Beautiful". Anfangs wirkt die erste Single sehr gewöhnlich, im Chorus geradezu unspektakulär, steigert sich aber ungemein und verlässt als fetziger Ohrwurm mit bretthartem Mittelteil nicht mehr die Gehörgänge. 

"Shoemaker" ist kein gewöhnlicher, sauber strukturierter Song, sondern vertrackt, mystisch und heavy. Die opernhaften Gesänge, das ruhige Duett von Jansen und Donockley, die Mischung aus monotonen Riffs und Bombast machen die Nummer sehr interessant und abwechslungsreich. Im grandiosen Finale sorgt Floor vor einer Soundtrack-Passage wie aus einem Spaghetti-Western als Operndiva für wohlige Gänsehaut-Schauer. Gott, was für eine Sängerin!

Im folkigen "Harvest" steht ganz klar Troy Donockley im Vordergrund. Die sanfte, einschmeichelnde (Halb-)Ballade mit wunderbarem Instrumental-Duell zwischen Vuorinen und Donockley bekommt man ebenso wenig aus dem Kopf wie den verträumten Ohrwurm "How's The Heart?" mit seinem eingängigen Refrain. Beide Tracks hätten auch gut auf "Dark Passion Play" gepasst.

"Pan" wirkt wie eine Achterbahnfahrt im NIGHTWISH-Kosmos: Schwindelig spielendes Piano, akzentuierter Bass, Wirbelwind-Riffs, opernhafte Vocals, Orchester-Bombast, düstere Chöre, symphonischer Refrain in der Tradition von "Oceanborn" oder "Nightwish" – hier geht's einmal die NIGHTWISH-Speisekarte rauf und runter.

"Procession" klingt wie eine moderne Version des völlig unterschätzten "Feel For You" (von "Century Child") mit einem Hauch "Angels Fall First". Ruhig, dramatisch, ungewöhnlich. Letzteres trifft auch auf das kurze, knackige "Tribal" zu, das allerdings in die entgegengesetzte Richtung geht: So hart haben sich NIGHTWISH lange nicht ausgetobt. Höhepunkt sind die Tribal-Percussions von Hahto.

Wehklagende Gitarren vor einem schleppenden Rhythmus eröffnen das abschließende "Endlessness", in dem Marco Hietala im Vordergrund steht, der zumindest gesangstechnisch bislang kaum zu hören war. Der Abschluss ist ihm wie auf den Leib geschneidert, das Finale mit Jansen geradezu atemberaubend.

"Nature": Holopainens Soundtrack für die Natur

Wer einen Longtrack wie "The Greatest Show On Earth" erwartet, wird enttäuscht: "All The Works Of Nature Which Adorn The World", Holopainens "Liebesbrief an diese Welt", ist ein rein orchestrales Werk, das nur ab und an von Spoken-Words-Passagen und Gesang untermalt wird.

Während das Orchester in "The Blue" schwere, monolithische Klänge erzeugt, die wie Wellen auf- und abebben und am Ende in Meeresrauschen münden, ist "The Green" verträumt und leichtfüßig komponiert. Es nimmt das aus "Music" bekannte Thema auf. Dudelsäcke und ein düsteres Zwischenspiel prägen das melancholische "The Moors", das am Ende mit Piano und Dudelsack die Widerhaken-Melodie aus dem letzten Part vorweg nimmt.

Mit an den "Inception"-Soundtrack von Hans Zimmer erinnernden Bläsern beginnt "Aurorae", in dem sich die farbenprächtigen Nordlichter widerspiegeln sollen. Dazu wirkt der etwas über zweiminütige Part allerdings zu pompös. Den passenden Ansatz verfolgt "Quiet As The Snow" mit verhaltenen Tönen und Geflüster zu Beginn, bevor vor dem musikalischen Auge eine majestätische Winterlandschaft gezeichnet wird, auf die Schneeflocken fällt.

In "Anthropocene" erzeugen zittrige Streicher und Bläser eine düstere Stimmung, bevor es in "Ad Astra" zu den Sternen geht. Der bombastische Abschluss mit Unterstützung von Floor Jansen setzt ein unerwartetes Ausrufezeichen.

Ich war anfangs skeptisch, ob ich mit dem Longtrack warm würde oder ob er nur als Hintergrundberieselung taugt. Wer beim ersten Hören von "All The Works Of Nature Which Adorn The World" enttäuscht ist: Gebt der achtteiligen Suite etwas Zeit. Lasst die zum jeweiligen Song passenden Bilder bei Spotify oder auf YouTube auf euch wirken. Beim mehrmaligen Hören, idealerweise unterm Kopfhörer bei einem Spaziergang durch die Natur, werdet ihr Fixpunkte und Melodien wiedererkennen und den Track mit ganz anderen Augen sehen. 

Die achtteilige Suite kann nicht mit den restlichen Songs des Albums verglichen werden, sie nimmt eine Sonderstellung ein. Sie ist nicht zu 100 Prozent perfekt: Manche Übergänge könnten etwas fließender sein, manches etwas weniger schwülstig, manches direkter. Bei einem reinen Orchester-Track hat Tuomas' Songwriting noch etwas Luft nach oben. Dennoch ist der halbstündige Soundtrack absolut hörenswert, abwechslungsreich und mitreißend, hat man ihn sich erst einmal erschlossen. Ohne ihn wäre das Album nicht das, was es ist.

Versteht die zweite CD als einen persönlichen Liebesbrief des Bandkopfs, wenn nötig auch als Bonus, der einmal und nie wieder in den CD-Player wandert. Aber kommt nicht auf die Idee, die Leistung der Band auf der ersten CD zu schmälern, wenn ihr mit einem halbstündigen Natur-Soundtrack nichts anfangen könnt – wobei ich mir gerade im Kreise der NIGHTWISH-Anhängerschaft wenig Sorgen darum mache.

Niemand kann NIGHTWISH vom Thron stoßen

In seinem Detailreichtum, der Verschmelzung von Metal und symphonischen Elementen ist "Human. :||: Nature." ein Füllhorn an Gänsehautmomenten, Ohrwurm-Melodien, Abwechslungsreichtum und wundervollen Harmonien. Und zeigt NIGHTWISH einmal mehr als die unangefochtenen Könige dieser Spielart – selbst, wenn "All The Works Of Nature Which Adorn The World" einen Hauch zu lang und ambitioniert geraten ist.

"Human :||: Nature" Trackliste:

Disc 1:
01. Music
02. Noise
03. Shoemaker
04. Harvest
05. Pan
06. How's The Heart?
07. Procession
08. Tribal
09. Endlessness

Disc 2:
01. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Vista
02. All The Works Of Nature Which Adorn The World - The Blue
03. All The Works Of Nature Which Adorn The World - The Green
04. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Moors
05. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Aurorae
06. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Quiet As The Snow
07. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Anthropocene (incl. "Hurrian Hymn To Nikkal")
08. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Ad Astra

NIGHTWISH Line-up:

Floor Jansen - vocals
Emppu Vuorinen - guitars
Marco Hietala - bass, vocals
Tuomas Holopainen - keyboards
Troy Donockley - uilleann pipes, tin whistle, vocals
Kai Hahto - drums