Iced Earth - Dystopia Tipp

icedearth dystopia

Stil (Spielzeit): Power Metal (42:20)
Label/Vertrieb (VÖ): Century Media (14.10.11)
Bewertung: 8/10

icedearth.com

Gene Adams, John Greely, Matthew Barlow, Tim Owens und nun Stuart Block – das sind die Sänger, die ICED EARTH seit dem Demo „Enter The Realm" (1998) bis heute ihre Stimme liehen bzw. leihen. Fünf Sänger, deren Stimmen sich deutlich voneinander unterscheiden und von denen Barlow, der Owens 2008 wieder ablöste, der beliebteste, charakteristischste, emotionalste und – jawohl – beste war, selbst wenn ich Owens auf den entsprechenden Alben ebenfalls sehr schätze. Nun also wieder ein neuer Sänger in der Band von Jon Schaffer, und die Frage, die sich noch vor der Qualität der neuen Songs überall stellt, heißt: Kann er Barlow das Wasser reichen?

Die Frage ist schwierig zu beantworten, denn in Blocks Stimme finden sich Anleihen aller bisherigen Sänger wieder. Manchmal klingt er Barlow täuschend ähnlich, bei den Screams vermutet man plötzlich wieder den Ripper hinterm Mikro, und in mittleren Tonlagen kommen einem der mittlerweile in Vergessenheit geratene Greely in den Sinn. So variabel hat noch kein Gesang auf einem ICED EARTH-Album geklungen. Und, auf die Songs bezogen: So sehr nach den Anfängen der Band und der Neunziger-Phase hat ebenfalls lange keine Scheibe von Jon Schaffer und seiner Truppe geklungen. Zehn Songs finden sich auf „Dystopia", acht davon behandeln mehr oder weniger bekannte Dystopien aus der Literatur oder dem Film (wie „V" mit seinem „V wie Vendetta"-Thema), zwei schließen die „Something Wicked"-Saga ab.

Musikalisch werden im Opener „Dystopia" mit Gänsehaut-Refrain und Power-Riffing oder „Tragedy And Triumph" mit „Colours"-Gedächtnisgitarren Erinnerungen an die ersten beiden ICED EARTH-Alben wach, und überhaupt basieren die Songs auf durchweg starken Riffs und bedienen sich der Stimmungen aller vorheriger Alben. Im getragenen „Anthem" oder „Anguish Of Youth" scheinen sogar „The Glorious Burden" durch, „Dark City" bedient sich musikalisch der orientalischen Thematik, wie man sie von so manchem ICED EARTH-Klassiker kennt. „Days Of Rage" ist quasi ein purer Thrash Metal-Song, simpel, aber durchweg effektiv. So durchgehend hart knüppelte sich das amerikanische Quartett noch durch keins seiner Alben, nur Teile von „End Of Innocence" fahren die Härte mit getragener Atmosphäre und Akustikgitarren ein wenig zurück. „Boiling Point" ist mit seiner treibenden Atmosphäre und dem tollen Chorus ein weiterer Anspieltipp.

Epischen Bombast, große Orchestrierungen oder ähnliches, das bei „Dante's Inferno" oder der „Gettysburg"-Trilogie noch eine wichtige Rolle spielte, finden sich auf „Dystopia" gar nicht. Hier regiert eine an die Frühphase der Band angelehnte Schnörkellosigkeit, die man Schaffer gar nicht mehr zugetraut hätte. Einerseits vermisst man in manchen Momenten eine groß angelegte Gänsehaut-Ballade oder einen epischen Zehnminüter, andererseits ist das neue Material so erfrischend wie lange nicht mehr.

Um die zu Anfang gestellte Frage zu beantworten: Ja, Block kann. Seine Stimme erlaubt es ihm, alle gewohnten Vocal-Bereiche abzudecken, selbst schwierige Barlow-Nummern, da seine Stimmlage der des bekannten Rotschopfes ziemlich ähnelt. Schaffer scheint wieder Spaß am straighten Riffen zu haben und vergisst dabei auch die typischen Harmonien nicht. An „Dystopia" kann man auch als alteingesessener, zuletzt enttäuschter ICED EARTH-Fan seine große Freude haben!