Dream Theater - Distance Over Time Tipp

Dream Theater - Distance Over Time

Das Konzeptalbum "The Astonishing" zeigte DREAM THEATER von ihrer bislang ambitioniertesten Seite, doch die Prog Metal-Könige verzettelten sich in zu viel Rockoper-Pomp. Mit "Distance Over Time" liefert das Quintett einen Gegenentwurf zum zahmen Vorgänger ab: Das 14. Studioalbum klingt wesentlicher härter, komplexer und komprimierter und ist mit regulär 57 Minuten Spielzeit das zweitkürzeste Werk der Bandgeschichte.

Für die Aufnahmen haben sich John Petrucci, James LaBrie, Jordan Rudess, John Myung und Mike Mangini im Yonderbarn Studio in Monticello, New York, verschanzt. Innerhalb von drei Wochen waren die Songs geschrieben, wenige Monate später aufgenommen. Dabei verbrachte die Band auch die komplette Zeit außerhalb des Studios gemeinsam, um den Teamgeist zu beschwören und zu ihren Wurzeln zurückzukehren.

Eine gute Entscheidung, denn so befreit, locker und frisch klangen die Progger selbst mit dem frischen Wind, den Mangini brachte, lange nicht. Zudem haben mit Ausnahme von Jordan Rudess diesmal alle Bandmitglieder Lyrics beigesteuert.

DREAM THEATER besinnen sich auf ihre Stärken

Das vorab ausgekoppelte "Untethered Angel" entpuppt sich mit kräftigen Riffs, komplexen Frickel-Parts und eingängigem Chorus als absolut typische DREAM THEATER-Nummer. Wirkt der Opener beim ersten Hören noch unscheinbar, wächst er mit jedem Durchgang, bis sich die Stop-and-go-Riffs und der Chorus tief ins Ohr gefräst haben.

"Paralyzed" ist ein kompakter vierminütiger Ohrwurm, der etwas an "Forsaken" erinnert. Die abwechslungsreichen Strophen und eingängige Bridge spielen die Hauptrolle, während der auf die Textzeile "I'm paralyzed" reduzierte Refrain praktisch nicht vorhanden ist.

"Fall Into The Light" begeistert von der ersten Sekunde an mit packenden Riffs, brummelndem Bass, hektischen Strophen und episch angehauchtem Chorus. Der getragene, melancholische Instrumentalpart nach dem unerwarteten Break mit anschließendem Keyboard-Solo ist bärenstark!

Mit seiner Wärme erinnert "Barstool Warrior" an die Früh- und Mittneunziger-Phase des Quintetts. Harmonische Gitarrenleads treffen auf atmosphärische Keyboards und Pianoklänge, Petruccis gefühlvolles Solo nach dem Break in der Mitte verursacht wie die Erhabenheit im Finale eine kribbelnde Gänsehaut. Mit Freudentränen in den Augen konstatiere ich: Genau dieser Sound macht diese Band aus!

Es frickelt ordentlich auf "Distance Over Time"

Anschließend legen die Progger im zackigen, kompakten "Room 137" mit einem satten Pfund nach und drehen die Härteschraube wieder fester an. Mit seinem stampfenden Rhythmus und dem psychedelischen, in THE BEATLES-Manier verfremdeten Vocals fräst sich der erste DT-Song, zu dem Mike Mangini Lyrics verfasst hat, schnell in die Gehörgänge.

Ein wahres Frickel-Fest erwartet den Hörer bei "S2N", das "Images & Words"-Feeling mit "Systematic Chaos"-Härte verbindet und in der Struktur der Strophen an "Take The Time" erinnert. Myung und Mangini begeben sich auf eine rhythmische Achterbahnfahrt, während Petrucci eingängige Riffs und harmonische Leads zum Besten gibt. Am Ende glänzt Rudess mit einem ausufernden Solo. Nach einer starken Performance inklusive epischem Chorus hält sich LaBrie in der zweiten Hälfte im Hintergrund. "S2N" zeigt alle Facetten des DREAM THEATER-Sounds auf knapp sechseinhalb Minuten komprimiert.

Mit einer Spielzeit von über neun Minuten ist "At Wit's End" der längste Song auf "Distance Over Time". Während Petrucci atemlos vor sich hin schreddert, streut Rudess Piano-Sprenkler und später Keyboard-Teppiche ein, bevor der vertrackte Song Form annimmt, die vom Breitwand-Chorus gehalten wird. Nach einem Break in der Mitte setzt Rudess LaBrie in Szene, bevor Petrucci mit wundervollen Harmonien in den Mittelpunkt rückt und der Song zu Tränen rührend ausfadet. Der Gitarrist kann eben nicht nur kompromisslos harte Riffs und wahnsinnig schnelle Gitarrenläufe, sondern auch extrem gefühlvolle Soli aus seiner Sechs- oder Siebensaitigen zaubern.

Berührende Ballade und Siebziger-Rocker im Prog-Gewand

Nach all der progressiven Härte zeigen sich DREAM THEATER in "Out Of Reach" mit Piano, atmosphärischen Gitarren und LaBries eindringlichen Vocals von ihrer sanften Seite. Die zugleich melancholische wie hoffnungsvolle Nummer sorgt für eine willkommene Pause und kann es locker mit jüngeren Balladen wie "Wither" oder "Along For The Ride" aufnehmen.

Mit "Pale Blue Dot" gibt das Quintett am Ende noch einmal Vollgas. Neben zahlreichen Tempowechseln, abgepfiffenen Rhythmen und Keyboard-Gitarre-Duellen erwarten den Hörer beängstigende Klanglandschaften, düstere Melodien und ein mächtiger Chorus.

Als Bonus präsentieren DREAM THEATER mit "Viper King" ihre Version einer Siebziger Jahre-Rockhymne. Dass der Vierminüter als Bonustrack gekennzeichnet ist, lässt sich ja noch damit erklären, dass er sich stilistisch deutlich vom restlichen Material unterscheidet. Warum er aber nur auf der Limited Edition zu finden ist, weiß der Teufel! Die verspielte, höchst eingängige Nummer ist nämlich ein absolutes Highlight und geht glatt als "Highway Star" im Prog-Gewand durch.

Ladies and gentlemen: This is DREAM THEATER!

Zusätzliche Pluspunkte sammeln DREAM THEATER mit der äußerst voluminösen, kraftvollen Produktion von John Petrucci, die "Distance Over Time" zu einem der am besten klingenden Alben der Bandgeschichte macht. Das wuchtige Fundament aus Drums und Bass wirkt nie erdrückend, jedes Instrument wird perfekt in Szene gesetzt. Dazu glänzt neben den Instrumentalisten auch Sänger James LaBrie mit einer erstklassigen, engagierten Performance.

Die wiedergefundene Härte, epische Melodien und komplexe Instrumentalpassagen mit dem Fokus auf das Wesentliche machen trotz Verzicht auf ein überlanges Epos aus jedem der neuen Songs ein prächtiges Hörerlebnis. "Distance Over Time" zeigt die Band dank des teamorientierten Aufnahmeprozesses in allerbester Verfassung und ist noch überzeugender als "Dream Theater" – und damit das stärkste Werk seit "Black Clouds & Silver Linings", vielleicht gar "Octavarium". Dabei atmet es stets den Geist der Vergangenheit: Die Melodik von "Images & Words", die Kälte von "Awake", die Leidenschaft von "Scenes From A Memory" und die Härte von "Train Of Thought".

So, genau so muss ein DREAM THEATER-Album klingen!

Trackliste von "Distance Over Time":

01. Untethered Angel (6:14)
02. Paralyzed (4:17)
03. Fall Into The Light (7:04)
04. Barstool Warrior (6:43)
05. Room 137 (4:23)
06. S2N (6:21)
07. At Wit’s End (9:20)
08. Out Of Reach (4:04)
09. Pale Blue Dot (8:25)
10. Viper King (4:00) (Bonus Limited Edition)

DREAM THEATER sind:

James LaBrie - Vocals
Jordan Rudess - Keyboards
John Petrucci - Guitars
John Myung - Bass
Michael Mangini - Drums