Zum ersten Mal wahrgenommen habe ich KREATOR, nachdem sie 1986 ihre zweite Scheibe „Pleasure to Kill” rausgebracht hatten. Der Metal Hammer berichtete nun immer öfter über die hoffnungsvolle Nachwuchsband aus dem Pott, und schon der Blick auf´s Bandfoto reichte, um zu wissen: Diese Typen waren härter, als ich es jemals sein würde!
Mitten in unserem ersten Überseekonzert hat unser Schlagzeuger die komplette Pizza auf seine eigene Snare gekotzt.
Hätte ich mir damals träumen lassen, dass KREATOR vier Jahrzehnte durchhalten und ich irgendwann Milles Memoiren in den Händen halten würde? Ganz sicher nicht! Doch wer auch immer beim Ullstein-Verlag auf die Idee gekommen ist, Mille Petrozza zum Niederschreiben seiner Erinnerungen zu bewegen, hatte ein hervorragendes Gespür.
So viele meiner Freunde sind untergegangen, im Knast oder auf Drogen gelandet, viele sind früh gestorben. (…) Hätte ich auf meine Lehrer gehört, wäre ich jetzt vermutlich selbst auf der Straße oder im Knast. Aber irgendwie hatte ich schon als Kind diese Stimme in mir, die gesagt hat: Fuck den ganzen Scheiß, mach dein Ding! Das war die wichtigste Entscheidung überhaupt. Heavy Metal hat mein Leben gerettet.
Angenehm reflektiert
Mille hat viel zu erzählen, und das tut er – in Zusammenarbeit mit seinem Co-Autor Torsten Groß – auf sehr angenehme Art und Weise. Der 57-Jährige beschreibt und hinterfragt die Dinge, wie man es von ihm kennt: ruhig, reflektiert, mit nüchternen Worten, nichts wird dabei künstlich überhöht oder aufgeblasen.
Ich bin überzeugt: Heavy Metal hatte sich Anfang der Neunziger größtenteils ganz von selbst erledigt, da hätte es NIRVANA, SOUNDGARDEN oder PEARL JAM gar nicht mehr gebraucht. Durch die Kommerzialisierung von Bands wie METALLICA und die bekloppte Glam-Rock-Szene und deren prahlerisches Gehabe.
Geboren Ende 1967, wächst Miland Petrozza in Altenessen auf, sein Vater kam als Gastarbeiter aus Italien und schuftet unter Tage, seine Mutter stammt aus der DDR. Das soziale Klima im Ruhrpott seiner Kindheit beschreibt Mille als rau, bei den Erwachsenen sind Alkohol und schwarze Pädagogik allgegenwärtig.
Die Lehrer schlugen uns mit dem Zeigestock, warfen ihren Schlüsselbund nach uns, versohlten uns den Hintern, und nach der Schule ging es bei den meisten von uns genauso weiter, da ging es in meiner Familie vergleichsweise mild zu. Keine Ahnung, ob ich ohne Schläge weniger bekloppt geworden wäre, als ich es heute bin.
Auch unter den Kindern und Jugendlichen geht es hart zu, die Gefahr, „auf die Fresse” zu bekommen, ist ständig gegeben. Daraus resultieren für Mille ein Rausschmiss aus der Schule und eine Woche im Jugendarrest. Für ihn der nötige Weckruf, sich von Personen zu distanzieren, die ihn zunehmend weiter nach unten ziehen würden.
Extreme Reaktionen
Zum Glück für Mille lieben seine Eltern Musik und unterstützen ihren Sohn, der nach Besuch eines KISS-Konzerts als 13-Jähriger beschlossen hat, Gitarre zu lernen und mit seinem Kindergartenfreund Jülle (KREATOR-Drummer Ventor) eine Band zu gründen. Das Geld für seine erste E-Gitarre verdient sich Mille selbst. Die Anfänge sind holprig, doch die jungen Musiker beißen sich durch und werden unter dem Einfluss von Bands wie VENOM zunehmend härter und zumindest auf lokaler Ebene immer bekannter.
Wir lösten extreme Publikumsreaktionen aus, (…) an den meisten Abenden standen durchgehend mehr Fans auf der Bühne als Musiker, es gab Stagediving am Fließband, und die Fans sind förmlich ausgeflippt.
Die Initialzündung für die spätere Karriere stammt jedoch von Milles Freund Stoney, der ohne Rücksprache mit der Band das Demo von TORMENTOR, wie die Gruppe zunächst heißt, an Noise Records schickt. Die Überraschung ist perfekt, als Label-Inhaber Karl Walterbach, der bereits HELLOWEEN und andere Hochkaräter entdeckt hat und die aufkommende Thrash-Welle auch in Deutschland heranrollen sieht, den Jungspunden 1985 einen Vertrag anbietet und sie direkt zu Plattenaufnahmen nach Berlin einlädt.
Wir waren minderjährig, es gab die Band noch nicht lange, wir hatten kaum Material – die Vorstellung, ein Album aufzunehmen, erschien vollkommen absurd. Aber natürlich auch ein bisschen reizvoll.
Am Ende ein Pageturner
Es folgen erste Tourneen und das Angebot für Mille, bei CELTIC FROST einzusteigen, doch obwohl die Schweizer zu seinen Idolen zählen, lehnt er ab. In Kanada und den USA sind KREATOR mit ihren Labelkollegen VOIVOD unterwegs und werden mit jedem Tag bekannter. Gerade im letzten Drittel wird das Buch immer mehr zum Pageturner, weil man erfahren möchte, was sich noch alles hinter den Kulissen abgespielt hat.
Im Bandbus war jede Nacht Party. Tagsüber wurde gekifft, nach den Shows nahmen wir Kokain und Pilze, (…) und nachts lagen wir nicht nur einmal in irgendwelchen Wüsten und umarmten bedröhnt und euphorisiert Kakteen.
Milles Erzählung endet 1992, nach Veröffentlichung der damals umstrittenen sechsten Scheibe „Renewal”. Das ist zwar schade, aber absolut verständlich, denn für eine komplette Band-Historie hätte zu viel Wissenswertes ausgesiebt werden müssen. Zudem lässt Mille durchblicken, dass er sich eine Fortsetzung durchaus vorstellen kann. Keine Frage – ich würde sie lesen!

